Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
tun
würden. Sie betrachtet sie, wie wir ein Stück Holz betrachten
oder« – er zeigte auf einen Stuhl – »ein Möbelstück. Nützlich,
und etwas, um das man sich kümmert, damit es weiterhin
nützlich bleibt, aber nichts, was außer diesem Nutzen irgendeinen Wert für sie hat. Wir fanden sie als schrecklich geschädigte Person und brachten sie her. Nakor kann dir mehr darüber sagen. Ich weiß nur, dass eines Tages dieses reizende
junge Mädchen bei uns auftauchte und Nakor uns erklärte,
was wir mit ihr tun sollten.«
»Aber warum? Warum hat er sie hergebracht?«
»Um sie auszubilden, damit sie für uns arbeiten kann. Um
dieses gnadenlose Wesen für unsere Ziele zu nutzen. Ansonsten wäre sie in Krondor hingerichtet worden. Wir können sie
zumindest brauchen und dadurch kontrollieren, wer verletzt
wird.«
Talon saß schweigend da und starrte durch die offene Tür
nach draußen. »Aber es hat sich so …«
»Echt angefühlt?«
»Ja. Ich dachte, sie hätte sich in mich verliebt.«
»Eine ihrer Begabungen besteht darin zu sein, was sie sein
muss, Talon, Es war eine grausame Lektion, aber notwendig.
Und ich kann es nicht oft genug betonen: Sie hätte dir im
Schlaf die Kehle durchgeschnitten, wenn Nakor es befohlen
hätte. Und dann hätte sie sich angezogen und ein vergnügtes
Liedchen gepfiffen, während sie zur Siedlung zurückkehrte.«
»Warum hast du mir das angetan?«
»Damit du tief in dich hineinschauen und verstehen kannst,
wie schwach das menschliche Herz ist, sodass du dich dagegen wappnen kannst, dass so etwas dir noch einmal passiert.«
»Bedeutet das, ich werde nie eine andere lieben können?«
Jetzt war es an Magnus zu schweigen, und auch er starrte
einen Augenblick durch die Tür ins Freie. Dann sagte er:
»Das glaube ich nicht. Aber sicher wirst du nicht mehr einfach irgendeine junge Frau lieben, weil sie hübsche Beine und
ein reizendes Lächeln hat und weil sie in deinem Bett liegt.
Du kannst mit so vielen Frauen schlafen, wie du willst, wenn
die Zeit und die Umstände es zulassen. Aber bilde dir nicht
ein, sie zu lieben, Talon.«
»Ich weiß so wenig.«
»Dann hast du den ersten Schritt zur Weisheit zurückgelegt«, erklärte Magnus und stand auf. Er ging zur Tür. »Denk
eine Weile darüber nach: Erinnere dich an die stillen Zeiten,
als dein Vater und deine Mutter sich um dich und die Familie
kümmerten. Das war Liebe. Nicht die Leidenschaft eines Augenblicks in den Armen einer willigen Frau.«
Talon lehnte sich gegen die Wand. »Es gibt so vieles, worüber ich nachdenken muss.«
»Morgen machen wir mit deiner Ausbildung weiter. Und
jetzt iss etwas und schlafe, denn wir haben viel zu tun.«
Magnus ging, und Talon ließ sich wieder aufs Bett sinken,
den Arm hinter dem Kopf. Er starrte an die Decke und dachte
darüber nach, was der Magier gesagt hatte. Es war, als hätte
Magnus Eiswasser über ihn gegossen. Ihm war kalt und unbehaglich zumute. Er konnte immer noch Alysandras Gesicht
vor seinem geistigen Auge sehen, aber es war kein spöttisches, grausames Gesicht. Und er fragte sich, ob er je wieder
eine Frau auf die gleiche Weise betrachten könnte wie sie.
Talon verbrachte eine ruhelose Nacht, obwohl er unendlich
müde war. Es war eine noch tiefere Erschöpfung als bei den
Gelegenheiten, als er sich von den schweren Wunden erholt
hatte, die ihm bei dem Überfall auf sein Dorf und in Magnus’
Hütte zugefügt worden waren. Es war eine Erschöpfung der
Seele, eine Lethargie, die von seinem verwundeten Herzen
herrührte.
Aber er spürte auch eine wilde Energie in sich, ein seltsames Aufblitzen von Bildern, Erinnerungen und Fantasien. Er
störte sich daran, wie Magnus Alysandra so einfach verurteilte. Talon wusste, dass er sich seine Gefühle nicht eingebildet
haben konnte, und gleichzeitig wusste er, dass genau das geschehen war. Er war zornig, und sein Schmerz brauchte ein
Ventil, aber es gab keine Möglichkeit, diesen Zorn zu konzentrieren. Er war wütend auf seine Lehrer, aber er wusste
auch, dass sie ihm eine wichtige Lektion beigebracht hatten,
die ihm vielleicht eines Tages das Leben retten würde. Er war
wütend auf Alysandra, aber nach dem, was Magnus ihm erzählt hatte, konnte man ihr die Schuld für das, was sie war,
ebenso wenig geben, wie man eine Giftschlange dafür verurteilen konnte, dass sie giftig war.
Der Morgen dämmerte, und der Himmel verfärbte sich rosa
und golden, ein frischer, klarer Herbstmorgen. Ein Klopfen
scheuchte Talon aus
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