Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
habe.«
»Es gefällt mir. Kannst du es auf der Flöte spielen?«
»Ich glaube schon«, sagte er und trat einen Schritt zurück,
um sich das Gemälde anzusehen, das er an diesem Morgen
begonnen hatte, das dritte, seit Alysandra zur Hütte gekommen war. Zum ersten Mal, seit er angefangen hatte zu malen,
war er wirklich überzeugt von dem, was er tat, und die erste
Skizze, die er angefertigt hatte, brauchte kaum Verbesserungen. Er verlieh der schwarzweißen Skizze nun in großen Flächen Farbe und konnte sehen, wie das Bild vor seinen Augen
Gestalt annahm.
Die erste Nacht mit ihr hatte er in einem Zustand vollkommener Euphorie verbracht. Er hätte sich nie vorstellen
können, für eine Frau das zu empfinden, was er nun für Alysandra empfand. Sie war liebenswert, warmherzig, leidenschaftlich und hingebungsvoll, ebenso wie auf eine spielerische und sehr erregende Weise beharrlich und fordernd.
Sie waren kaum zum Schlafen gekommen. Am Ende hatte
Alysandra behauptet, sie hätte zu großen Hunger, um schlafen
zu können, und er hatte gekocht, während sie im See badete.
Er schwamm ein wenig, während sie aß, und kehrte dann zurück, schlang Brot und Käse herunter, trank einen Schluck
Wein und trug sie wieder ins Bett zurück.
Irgendwo zwischen Liebe, Essen und Schlafen war es Talon gelungen, hinter der Hütte einen Eiskeller zu graben. Er
hatte entzückt festgestellt, dass jemand das Gleiche schon vor
Jahren begonnen hatte, und der größte Teil des Lochs war
bereits vollendet, also brauchte er nur zu entfernen, was sich
im Lauf der Jahre an Laub und Gebüsch angesammelt hatte,
dann die Seiten zu begradigen, Stufen zu graben und eine Tür
abzumessen.
Er beendete die Arbeit am zweiten Tag. Fleisch, Bier, Wein
und Käse befanden sich nun im kalten Keller. Und seitdem
hatte er sich nur einer einzigen Sache gewidmet: Alysandra.
Er trat von dem Gemälde zurück und brummte nachdenklich vor sich hin.
Sie gab das Posieren auf und kam zu ihm. »Das soll ich
sein?«
»Ja«, erklärte er mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Warte nur
ab, bis ich die Einzelheiten ausgearbeitet habe.«
»Wie du meinst.« Sie stellte sich hinter ihn und umarmte
ihn. Dann ließ sie die Hände tiefer gleiten und tat überrascht:
»Oh, was ist denn das da?«
Er drehte sich in ihren Armen um, küsste sie und sagte:
»Ich werde es dir erklären.«
Den ganzen Sommer über führten sie ein idyllisches Leben.
Hin und wieder kam Meister Maceus vorbei, um sich Talons
Arbeiten anzusehen und Vorschläge zu machen, wie er sie
noch verbessern konnte, aber seine Kritik war recht wohlwollend. Als der Herbst begann, hatte Talon sein zwölftes Porträt
von Alysandra fast vollendet – dieses Gemälde zeigte, wie sie
sich auf dem Bett räkelte.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er und fügte noch ein paar
Einzelheiten hinzu, die ihm gerade erst aufgefallen waren.
Nun begann er, Perfektion anzustreben.
»Worüber?«, fragte sie lächelnd.
»Darüber, was als Nächstes kommt.«
»Noch ein Bild?«, fragte sie grinsend.
»Nein, ich meine, wie es mit uns weitergeht.«
Plötzlich verschwand ihr Lächeln. Sie stand auf und kam
rasch auf ihn zu. Ohne die geringste Spur von Zärtlichkeit hob
sie die rechte Hand und legte ihm den Zeigefinger auf den
Mund. »Still«, mahnte sie. »Da gibt es nichts zum Nachdenken. Wir sind einfach hier und jetzt, und das ist alles, was
zählt.«
»Aber -«
Sie drückte mit dem Finger fester zu, und in ihren Augen
war ein Glitzern, das er dort noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ich habe doch gesagt, du sollst still sein.« Dann kehrte ihr
Lächeln zurück, aber es lag eine Härte darin, die Talon ebenfalls neu war. Sie griff nach unten, streichelte ihn und sagte:
»Ich weiß, wie ich dich dazu bringen kann, nicht über Dinge
nachzudenken, die man lieber ignorieren sollte.«
Er verspürte so etwas wie Sorge, denn er hatte etwas an
ihr bemerkt, was ihm fremd und ein wenig beängstigend
war. Aber wie stets entflammte ihn ihre Berührung, und Augenblicke später waren alle Sorgen seiner Leidenschaft gewichen.
Am nächsten Tag fing es an zu regnen. Sie erwachten zum
Prasseln der Tropfen auf dem Hüttendach, und Talon stellte
bald fest, dass er ein halbes Dutzend undichte Stellen stopfen
musste. Er versuchte es mit Sackleinen; das Dach war aus
Stroh, und er würde warten müssen, bis es trocken war, um es
richtig zu flicken.
Nach dem Essen stand Alysandra auf und fing an, sich anzuziehen. Er fragte: »Willst du irgendwohin?«
»Zurück zur Siedlung«,
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