Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
seiner finsteren Versunkenheit, und er
öffnete die Tür.
Caleb stand vor ihm. »Lass uns auf die Jagd gehen«, sagte
er.
Talon nickte, und er fragte sich nicht einmal, wie Caleb so
plötzlich auf der Insel aufgetaucht war. Man konnte, wie bei
vielem hier, wohl davon ausgehen, dass Magie im Spiel war.
Talon holte seinen Bogen aus dem Kleiderschrank, wo er
ihn in die Ecke gestellt und vergessen hatte. Er hatte Stunden
damit zugebracht, die Kleidung anzuziehen, die sich ebenfalls
in diesem Schrank befand, und sie wieder auszuziehen, während er und Alysandra den Sommer über immer wieder neue
Spiele erfunden hatten. Er hatte sie für Spiele der Liebe gehalten, aber nun betrachtete er sie als Übungen in Wollust.
Er hielt den Bogen in der Hand und wusste auf einmal,
dass ihm in diesen Tagen mit dem Mädchen auch etwas gefehlt hatte. Er holte einen Köcher mit Pfeilen heraus, dann
wandte er sich Caleb zu. »Gehen wir«, sagte er.
Caleb schlug ein mörderisches Tempo an, eilte voraus und
warf keinen Blick zurück, denn er erwartete, dass Talon jederzeit einen Schritt hinter ihm oder an seiner Seite war.
Sie wandten sich nach Norden und entfernten sich weit von
der Siedlung. Die Hälfte der Zeit liefen sie. Gegen Mittag
blieb Caleb stehen und zeigte auf etwas. Sie standen oben auf
einem Hügel, der einen Blick auf den größten Teil des Nordens der Insel bot. In der Ferne konnte Talon die kleine Hütte
erkennen, in der er mit Magnus gewohnt hatte, als er auf die
Insel gekommen war. Er schwieg.
Caleb sagte schließlich: »Ich habe auch einmal geglaubt,
dass ich verliebt wäre.«
»Weiß es eigentlich jeder hier?«
»Nur die, die es wissen müssen. Es war eine Lektion.«
»Ja, das sagen alle immer wieder. Aber mir kommt es wie
ein grausamer Scherz vor.«
»Grausam war es zweifellos. Aber kein Scherz. Ich bezweifle, dass dir bisher jemand gesagt hat, was dir bevorsteht.
Selbst ich weiß nicht genau, um was es geht, obwohl ich eine
gewisse Vorstellung davon habe. Man wird dich an Orte schicken, wo du Dinge siehst, die sich kein Orosini-Junge je hätte
träumen lassen. Und an diesen Orten können die Tricks einer
schönen Frau so tödlich sein wie eine vergiftete Klinge.« Er
stützte sich auf seinen Bogen. »Alysandra ist nicht das einzige
Mädchen mit einer tödlichen Seite. Unsere Feinde haben viele
solcher Frauen in ihren Reihen. Ebenso, wie sie Agenten wie
dich haben werden.«
»Agenten?«
»Du arbeitest jetzt für das Konklave; so viel weißt du jedenfalls.« Er warf Talon einen Blick zu, und dieser nickte.
»Nakor und mein Vater werden dir eines Tages mehr sagen,
aber eins kann ich dir jetzt schon verraten, selbst wenn sie
nicht glauben, dass du bereit bist, es schon zu wissen: Wir
arbeiten für das Gute. Es ist die Ironie des Schicksals, dass
wir manchmal Dinge tun müssen, die böse wirken, sodass das
Gute schließlich siegen kann.«
Talon sagte: »Ich bin kein Gelehrter. Ich habe einiges gelesen – genug, um zu wissen, dass ich sehr wenig weiß. Aber
ich habe genug gelernt, um zu begreifen, dass alle Männer
sich irgendwie für Helden halten, zumindest für die Helden
ihres eigenen Lebens, und dass kein Mann, der etwas Böses
tat, je wirklich geglaubt hat, dass das so war.«
»In gewisser Weise hast du Recht.« Caleb hielt einen Augenblick inne, als wollte er den frischen Herbstwind genießen.
»In anderer Hinsicht weißt du sicher, dass du Unrecht hast. Es
gibt Männer, die wissentlich dem Bösen dienen, die sich ihm
willig hingeben und die dadurch etwas erreichen wollen. Einige gieren nach Macht, andere nach Wohlstand. Einige andre
haben noch dunklere Ziele. Aber sie alle bringen Unschuldigen Leid und Qual.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Nur, dass du kurz davor stehst, mit der nächsten Phase
deiner Erziehung zu beginnen, und du solltest darauf vorbereitet sein, auch Dinge zu akzeptieren, die dir schrecklich und
unangenehm vorkommen. Es ist notwendig.«
Talon nickte. »Wann fängt diese nächste Phase an?«
»Morgen, wenn wir nach Krondor aufbrechen. Aber jetzt
lass uns jagen.« Caleb griff wieder nach seinem Bogen und
eilte einen Wildpfad entlang, ohne einen Blick zurückzuwerfen, um sich zu überzeugen, dass Talon ihm folgte.
Talon hielt noch einen Moment inne, dann eilte er hinter
Caleb her, wohl wissend, dass auch diese neueste Wunde, die
er tief in seinem Innern spürte, heilen würde. Er befürchtete
allerdings, dass sie eine Narbe hinterlassen würde, die ihm
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