Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 2
Ein bedauerlicher »Unfall«, aber so etwas
konnte passieren. Die Ironie dabei, dachte Tal, besteht darin, dass mir solche Unfälle recht häufig zustoßen. Nein, das würde nicht helfen, denn bei einem
Duell ginge es um Ehre, und der König würde ihm
danach vielleicht nie mehr erlauben, den Palast zu
betreten, aber ansonsten …
Also eine Schlägerei? Matthew hatte eine Vorliebe
für die heruntergekommeneren Bordelle und Spielsalons der Stadt. Er begab sich »verkleidet« dorthin,
obwohl alle ihn kannten und er seine Position nutzte,
um sich Vorteile zu verschaffen.
Auch diese Idee verwarf Tal: nicht öffentlich genug. Es gab keine einfache Möglichkeit, Matthew
auf eine Weise zu töten, die Tal in die Grauzone zwischen Verzeihung und Enthauptung brachte. Und
selbst wenn es ihm gelingen sollte und Kaspar sich
um seinetwillen einmischte, würde das Kaspars
Schuld nicht begleichen? Tal gefiel es, dass der Herzog in seiner Schuld stand.
So ging es nicht, dachte er und stand auf. Er würde
Prinz Matthew nicht töten. Dann fiel ihm eine andere
Möglichkeit ein. Er setzte sich wieder hin, dachte
ausführlicher darüber nach und kam zu dem Schluss,
dass er bisher seine eigene Position noch nicht genügend bedacht hatte. Tatsächlich lieferte sie ihm eine
hervorragende Gelegenheit, sich in Roldem zur unerwünschten Person zu machen. Er würde danach
zwar nicht den Richtblock fürchten müssen, aber in
Roldem keine gesellschaftliche Zukunft mehr haben.
Und dann würde es so aussehen, als bliebe ihm
nichts anderes übrig, als in den Dienst des Herzogs
zu treten.
»Pasko!«, rief er, und einen Augenblick später
kam Amafi herein.
»Euer Wohlgeboren, wie kann ich dienen?«, fragte
er in der Sprache der Inseln.
»Wo ist Pasko?«, fragte Tal und deutete auf seine
Hose.
Der ehemalige Attentäter reichte ihm das Kleidungsstück. »Er ist zum Morgenmarkt gegangen,
Euer Wohlgeboren, um Lebensmittel zu kaufen. Was
kann ich für Euch tun?«
Tal dachte nach und sagte: »Ich denke, du kannst
vielleicht gleich damit anfangen, die Tätigkeit eines
Kammerdieners zu erlernen.«
»Kammerdiener? Euer Wohlgeboren, das Wort
kenne ich nicht.«
Tal hatte vergessen, dass er Roldemisch gesprochen hatte und Amafi dieser Sprache kaum folgen
konnte. »II cameriere personale« , sagte er auf Queganisch.
»Ah, ich verstehe«, erwiderte Amafi. »Ich habe
einige Zeit unter Adligen verbracht, Euer Wohlgeboren, also wird es mir nicht schwer fallen. Aber was
ist mit Pasko?«
»Ich fürchte, Pasko wird uns bald verlassen.« Tal
setzte sich hin und zog sich die Stiefel an. »Eine Familienangelegenheit. Er muss zu seinem Vater oben
in Latagore zurückkehren.«
Amafi fragte nicht nach Einzelheiten. Er sagte nur:
»Dann werde ich mich anstrengen, ein guter Ersatz
für ihn zu sein.«
»Wir werden an deinem Roldemisch arbeiten müssen«, erklärte Tal. »Ich gehe zum Hof der Meister.
Warte hier auf Pasko, dann sag ihm, er soll anfangen,
dich zu unterrichten. Er wird dir die Arbeiten erklären, während er sie ausführt. Du wirst eine Weile
sein Schatten sein und ihn beobachten. Stelle ruhig
Fragen, solange sie mich oder meine Gesellschaft
nicht stören; ansonsten hebst du sie dir für Zeiten
auf, in denen ihr allein seid. Sag ihm, er soll mittags
zu Remarga kommen und frische Kleidung mitbringen. Ich werde bei … hm, bei Baldwin zu Mittag essen, draußen am Kanal, und nachmittags ein wenig
bei Depanov Karten spielen. Dann kehre ich hierher
zurück, um mich zum Abendessen umzuziehen.«
»Sehr wohl, Euer Wohlgeboren.«
Tal zog das gleiche Hemd an wie am Vortag, warf
sich lässig eine Jacke über die Schulter und griff
dann nach seinem Schwert. »Und jetzt finde etwas zu
tun, bis Pasko zurückkommt, und wir sehen uns gegen Mittag.«
»Sehr wohl, Euer Wohlgeboren«, wiederholte
Amafi.
Tal ging die Treppe hinunter. Er schnallte sich den
Schwertgurt um und behielt die Jacke über der
Schulter. Es war ein warmer Tag, und er hatte keinen
Hut aufgesetzt. Während er durch die Straßen zum
Hof der Meister schlenderte, dachte er darüber nach,
wie viel Schaden er einem Angehörigen des Königshauses zufügen konnte, ohne zu viel Ärger zu bekommen.
Die Morgensonne, eine warme Brise vom Meer
her und die Erinnerung an die Nacht mit Lady Natalia – all das versetzte Tal in wunderbare Laune. Als
er den Hof der Meister erreichte, wusste er genau,
wie er einen Angehörigen der königlichen Familie
demütigen konnte, ohne dass man ihn
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