Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 4
Stardockstedt reiste, und selbst der war
gut vier oder fünf Zoll größer gewesen als diese alte
Frau.
Ihr Haar war weiß, und ihre Haut sah aus wie altes,
von der Sonne verbranntes Leder. Zane hätte nicht sagen
können, ob sie als Mädchen einmal hell- oder dunkelhäutig gewesen war. Ihre gebeugte Haltung ließ sie noch
kleiner wirken.
Aber selbst im Dunkeln konnte Zane ihre Augen sehen,
die wirkten, als leuchteten sie von innen heraus. Im trüben
Mondlicht erkannte er, dass sie verblüffend blau waren.
Sie hatte keine Zähne mehr und sprach recht undeutlich: »Dann werde ich zu McGrudder gehen, denn ich
lasse mir nicht nachsagen, dass ich meine Schulden nicht
bezahle.«
Sie wartete nicht auf Margaret und Zane, sondern marschierte entschlossen an ihnen vorbei, wobei sie vor sich
hin murmelte.
Zane und das Mädchen konnten leicht mit ihr Schritt
halten, und als sie das Gasthaus erreichten und hineingingen, bemerkte Zane verblüfft, dass die kleine alte Frau
im Lampenlicht noch zerbrechlicher und winziger wirkte
als zuvor.
Sie stapfte auf McGrudder zu und sagte: »Und was bin
ich dir schuldig, McGrudder, dass du mich mitten in der
Nacht herholst?«
»Mir schuldest du nichts, alte Frau«, entgegnete der
Wirt. »Aber ihm.«
Die Frau sah die Gestalt auf dem Tisch an und rief:
»Caleb!« Sie eilte an seine Seite und sagte: »Schafft das
Hemd aus dem Weg, damit ich mir die Wunden ansehen
kann.«
McGrudder begann, Caleb aufzusetzen, damit er ihm
Jacke und Hemd ausziehen konnte, und die Frau kreischte beinahe: »Schneid die Sachen auf, du Dummkopf!
Willst du ihn umbringen?«
Tad hatte Calebs Jagdmesser behalten; nun zog er es
hervor und reichte es mit dem Griff voran dem Wirt.
McGrudder setzte es geschickt ein und zerschnitt erst die
Jacke, dann das Hemd.
Die alte Frau betrachtete die Wunden und sagte: »Er
ist dem Tod nahe. Kocht Verbände, und holt mir einen
Becher Wein. Schnell.«
Die Frau hatte eine kleine Ledertasche an einem Gurt
über der Schulter hängen. Sie stellte sich neben den Tisch
und suchte in dem Beutel, bis sie gefunden hatte, was sie
suchte. Dann holte sie ein gefaltetes Pergament heraus,
und als man ihr den Wein reichte, faltete sie es auf und
ließ ein feines Pulver in den Wein rieseln. Zu Zane sagte
sie: »Du, Junge, halte seinen Kopf hoch, und pass auf,
dass er sich nicht verschluckt, wenn ich ihm den Wein
einflöße.«
Zane tat, was sie gesagt hatte, und Calebs Lippen bewegten sich ein wenig, als sie ihm den Trank verabreichte. Dann ging sie ans Feuer und sah nach dem Kessel.
Als das Wasser anfing zu kochen, legte sie die aus Bettwäsche geschnittenen Bandagen hinein und sagte: »Du,
Mädchen, hol mir Seife und kaltes Wasser.«
Margaret brachte einen Eimer kaltes Wasser und die
Seife. Die winzige Frau schöpfte ein wenig heißes Wasser aus dem Kessel in den Eimer, um das Wasser dort zu
wärmen, dann befahl sie Tad, die Verbände in den Eimer
zu legen.
Sie machte sich mit überraschender Energie daran, Calebs Wunden zu waschen. Sie ließ McGrudder die Verbände mit dem metallenen Schöpflöffel wieder aus dem
Eimer holen und dann vor das Feuer halten, damit sie ein
wenig trockneten. Als sie zu dem Schluss kam, dass die
Stoffstreifen trocken genug waren, verband sie Calebs
Wunden und sagte: »Und jetzt tragt ihn in ein Zimmer,
und lasst ihn schlafen.«
McGrudder hob Caleb hoch, wie ein Mann ein Kind
hochhebt, und schleppte ihn die Treppe hinauf. Zane
fragte: »Wird er am Leben bleiben?«
Die alte Frau sah ihn skeptisch an und sagte: »Wahrscheinlich nicht. Aber er wird noch ein bisschen länger
unter uns bleiben, und das ist wichtig.«
»Warum?«, wollte Tad wissen.
Die alte Frau lächelte dünn und sagte: »Warte ab.«
McGrudder kehrte zurück und fragte: »Was können
wir sonst noch tun?«
»Du weißt, was du tun musst«, antwortete sie, dann
drehte sie sich um, um zu gehen.
»Moment mal!«, rief Zane. »Das ist alles? Ein Becher
Wein und ein paar Verbände?«
»Mein Trank ist mehr als nur ein Becher Wein, Junge.
Er wird ihn lange genug am Leben halten, damit
McGrudder andere Hilfe holen kann, und diese Hilfe
wird Caleb, Sohn des Pug, retten.«
»Welche Hilfe?«, fragte McGrudder.
»Versuch nicht, mich zu täuschen, du alter Schwindler«, entgegnete die Frau. »Ich weiß, wer dein wahrer
Herr ist, und ich weiß, dass du ihn in einem Notfall
schnell benachrichtigen kannst.« Sie wies mit dem Daumen zur Treppe und fügte hinzu: »Sein Sohn liegt im
Sterben,
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