Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 4
tatsächlich?«
»Ich meine vor sehr kurzer Zeit«, erklärte Zane und
hielt den Beutel hoch. »Hier sind einige Münzen drin.«
»Wir sollten Caleb lieber auf den Wagen heben, denn
ich weiß nicht, wie lange er ohne Hilfe noch durchhält.«
Beide Jungen packten den Verwundeten und legten
ihn auf den Wagen. Tad sagte: »Bleib du dahinten bei
ihm. Ich fahre.«
Sie waren beide keine erfahrenen Kutscher, aber sie
hatten Caleb auf ihrer Reise hin und wieder abgelöst, und
Zane musste zugeben, dass Tad sich dabei besser angestellt hatte als er. Die Pferde wollten nicht aufhören zu
fressen und wieder die Straße entlanziehen. »Weißt du
noch, was Caleb über die Entfernung zu diesem Dorf
gesagt hat?«
»Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Zane. »Aber beeil
dich. Ich glaube, wir haben nicht viel Zeit.« Tad zog das
Gespann nach rechts und wieder auf die Straße und
brachte die Pferde mit einem Schnippen der Zügel
schließlich dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen. Mit
einem weiteren Schnippen und einem lauten Ruf veranlasste er sie zu einem raschen Trab, das Schnellste, was
er im Dunkeln wagen konnte, ohne Gefahr zu laufen,
dass sie von der Straße abkamen.
Caleb lag reglos da, den Kopf auf einem Bündel leerer
Säcke, und Zane tat sein Bestes, die Blutungen zu stoppen. Leise flüsterte der Junge: »Bitte stirb nicht.«
Tad wiederholte lautlos die Bitte seines Pflegebruders,
während er die Pferde weiter die furchterregend dunkle
Straße entlanglenkte.
Die Fahrt durch den Wald schien eine Ewigkeit zu
dauern. Die Jungen waren zwischen beinahe panischer
Angst und einem entschlossenen Optimismus, dass sich
alles zum Besten wenden würde, hin und her gerissen.
Sie hatten kein Zeitgefühl mehr, wussten nur, dass die
Minuten rasch verstrichen. Die Pferde hatten vor dem
Hinterhalt lange keine Rast mehr gehabt, und nun atmeten sie schwer, und das linke schien das linke Hinterbein
zu schonen, aber Tad ignorierte das; er würde beide Pferde umbringen, wenn er nur Caleb retten könnte.
Beide Jungen mochten den hoch gewachsenen, ruhigen Jäger. Sie wussten, dass er der Sohn des Gründers
von Stardock war. Sie wussten auch, dass ihre Mutter in
Caleb verliebt war und dass er sie sehr gern hatte. Zunächst hatten sie ihn deshalb abgelehnt, aber dann war
ihnen aufgefallen, wie glücklich seine Besuche Marie
machten. Tads größte Angst bestand nun darin, dass er
nach Stardockstedt zurückkehren und das Gesicht seiner
Mutter sehen musste, wenn sie von Calebs Tod erfuhr.
Plötzlich waren sie im Dorf. Tad erkannte, dass er sich
so darauf konzentriert hatte, darüber nachzudenken, was
er seiner Mutter sagen würde, und dass Zane nur Caleb
im Auge behalten hatte, und ihnen war daher entgangen,
dass sie nun schon seit einiger Zeit an Bauernhöfen vorbeifuhren. Der Mond war aufgegangen, und in seinem
Licht konnten sie das Dorf Yar-Rin sehen. Ein paar Hütten standen an der Straße, die auf den Dorfplatz führte,
und direkt am Platz selbst gab es drei größere Gebäude.
Eins war eine Mühle, und die beiden anderen schienen
eine Art Laden und ein Gasthaus zu sein. Das Gasthausschild zeigte einen schlafenden Hahn, der den Sonnenaufgang ignorierte. Tad erinnerte sich an Calebs Anweisungen, hielt den Wagen vor dem Gasthaus an und stieg
ab, um gegen die verschlossene Tür zu hämmern.
Nach etwa einer Minute hörte man von oben eine
Stimme, und ein Fenster wurde geöffnet. »Was ist denn
los?«, fragte der zornige Wirt und streckte den Kopf aus
dem Fenster.
»Seid Ihr McGrudder? Wir brauchen Hilfe!«, rief Tad.
»Einen Moment«, sagte der Mann und zog den Kopf
zurück.
Einen Augenblick später ging die Tür auf, und ein
großer, kräftiger Mann in einem Nachthemd und mit einer Laterne in der Hand erschien auf der Schwelle. »Also
gut, wer ist wir, und welche Hilfe braucht – « Die Frage
erstarb auf seinen Lippen, als er Zane sah, der neben Caleb auf dem Wagenbett kniete. Er brachte die Laterne
näher heran und sagte: »Die Götter seien uns gnädig!« Er
schaute die beiden erschöpften, schmutzigen Jungen an
und sagte: »Helft mir, ihn ins Haus zu bringen.«
Tad sprang neben Zane aufs Wagenbett, und sie nahmen je einen von Calebs Armen über die Schulter und
zogen ihn hoch. Der Wirt kam zum Wagenende und sagte: »Reicht ihn mir runter.«
Sie ließen Caleb vorsichtig über die Schulter des großen, kräftigen Mannes fallen, der das Blut ignorierte, das
auf sein Nachthemd floss, und den Verwundeten
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