Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 4
sie.
»Das meinte ich nicht«, erwiderte Tad. »Es ist nur …
na ja, er ist so oft weg.«
Mit einem kleinen Lächeln sagte Marie: »Es gibt mehr
als nur eine Frau, die es für einen Segen hält, dass ihr
Mann oft weg ist.« Sie legte ihm die Hände auf die
Schultern und drehte ihn zur Tür. »Und jetzt sieh zu, dass
du die anderen einholst. Ich komme bald nach.«
Tad rannte hinter den anderen her, und Marie wandte
ihre Aufmerksamkeit ihrem kleinen Heim zu. Alles war
aufgeräumt und sauber; sie mochte arm sein, aber Marie
war stolz auf ihren ordentlichen Haushalt. Mit zwei Jungen im Haus war es nicht immer einfach, alles sauber zu
halten, aber für gewöhnlich gehorchten die beiden ihr
ohne Widerspruch.
Marie sah nach der Suppe, die auf dem Herd vor sich
hin köchelte, und kam zu dem Schluss, dass sie fertig
war. Alle im Dorf trugen zum Erntefest bei, und Maries
Suppe war zwar schlicht, aber köstlich, so dass auch jene,
die viel mehr zum Festmahl beisteuerten, sie gerne aßen.
Als Marie nun einen Blick zur Tür warf, erwartete sie
halb, die Silhouette eines hoch gewachsenen Mannes im
Licht zu sehen, und für einen kurzen, bitteren Moment
erkannte sie, dass sie nicht sicher war, wen sie sich mehr
wünschte, dort zu erblicken – ihren verstorbenen Mann
oder Caleb. Dann schob sie diese irrelevanten Gedanken
beiseite und erinnerte sich, dass es sinnlos war, sich nach
etwas zu sehnen, was man nicht haben konnte. Sie war
eine Bauersfrau und kannte sich mit dem Leben aus: Es
ließ einem selten eine Wahl, und um zu überleben, musste man nach vorn schauen, nicht zurück.
Kurze Zeit später hörte Marie, dass jemand auf das Haus
zukam, und als sie sich umdrehte, stand Caleb in der Tür.
Mit einem kleinen Lächeln fragte er: »Erwartest du jemanden?«
Sie verschränkte die Arme und sah ihn abschätzend
an. Er war nur ein paar Jahre jünger als Marie, aber sein
glatt rasiertes Kinn und das faltenlose Gesicht ließen Caleb jung wirken, obwohl sich immer mehr Grau in sein
schulterlanges braunes Haar einschlich. Seine Augen waren ebenfalls braun, und er hatte den aufmerksamen
Blick eines Jägers. Er trug die gut gearbeitete, aber
schlicht geschnittene Kleidung eines Waldläufers: einen
Schlapphut aus schwarzem Filz, eine dunkelgrüne Wolltunika, die sich eng an seine breiten Schultern schmiegte,
und eine Lederhose, die er in die wadenhohen Hirschlederstiefel gesteckt hatte. Sein Gesicht war lang und
schmal, aber sie fand, dass er recht gut aussah. Er war
stets rücksichtsvoll, und er hatte keine Angst vor länger
anhaltendem Schweigen. Aber vor allem fühlte sie sich
wegen der Art, wie er sie ansah, zu ihm hingezogen – es
war, als sähe er in ihr etwas Wertvolles. Caleb lächelte.
»Bin ich spät dran?«
»Wie immer«, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln. Dann musste sie lachen, und ihre Augen strahlten.
»Aber nicht zu spät.« Sie ging auf ihn zu, umarmte und
küsste ihn und sagte dann: »Die Jungen sind vor ein paar
Minuten gegangen.«
Er erwiderte die Umarmung, dann fragte er: »Wie viel
Zeit haben wir?«
Marie sah ihn schief an und sagte: »Nicht genug, wenn
ich deine Stimmung richtig deute.« Sie nickte zur Feuerstelle hin. »Hilf mir mit dem Kessel.« Sie griff nach einem langen Eichenstock, der neben dem gemauerten
Kamin lehnte.
Caleb legte seinen Bogen, den Köcher und den Rucksack ab und stellte alles in eine Ecke. Als Marie den
Stock durch den Eisengriff des großen Kessels steckte,
nahm er ein Ende davon.
Mit Hilfe des Stocks hoben sie den Kessel gemeinsam
von dem Haken, der ihn über den Flammen gehalten hatte, und gingen auf die Tür zu. »Du zuerst«, sagte Caleb.
Sobald sie draußen waren, drehte er sich, so dass sie
nun nebeneinander hergehen konnten, den Kessel zwischen sich. »Wie war der Weg hierher?«, fragte Marie.
»Ereignislos«, antwortete er.
Sie hatte gelernt, ihn nicht danach zu fragen, was er
getan hatte oder wo er gewesen war, denn sie wusste,
dass er für seinen Vater arbeitete. Es gab Leute, die behaupteten, Calebs Vater sei einmal Herzog von Stardock
gewesen, aber derzeit beanspruchte niemand die Herrschaft über die Insel oder den kleinen Ort am gegenüberliegenden Ufer. Patrouillen aus der Garnison des Königreichs in Shamata verbrachten hin und wieder einen Tag
im Dorfgasthaus, oder eine Patrouille aus Kesh ritt aus
der Grenzfestung in Nar Ayab herauf, aber beide Seiten
erhoben keinen Anspruch auf den Großen Sternensee
oder die Umgebung.
Weitere Kostenlose Bücher