Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 5
voll ein.
Als er das scharfe, aber dennoch wohlschmeckende Getränk genoss, spürte er, wie sich Wärme in seinem Mund und seiner Kehle ausbreitete. Er schloss
den Schrank wieder und ging zu einer großen Holzschachtel, die auf einem Bücherschrank stand. Es
war ein schlichter Entwurf, aber wunderbar geschnitzt, Akazienholz mit Zapfen und Leim, ohne
einen einzigen Nagel gefertigt. Pug schob sein Getränk beiseite, hob den Deckel, legte ihn weg und
schaute in die Schachtel, die ein einzelnes Stück Pergament enthielt.
Er seufzte. Er hatte erwartet, es dort zu finden.
Die Schachtel war eines Morgens erschienen,
schon Vorjahren, und hatte auf seinem Schreibtisch
in Stardock gestanden. Sie hatte Schutzzauber gehabt, aber was ihn mehr überrascht hatte, war, dass er
diese Zauber so schnell erkannte. Es war, als hätte er
selbst diese Schachtel geschützt. Er befürchtete eine
Falle und hatte sich und die Schachtel ein großes
Stück von der Insel wegtransportiert, und dann hatte
er sie ohne Probleme geöffnet. Drei Zettel hatten darin gelegen.
Auf dem ersten hatte gestanden: »Das war eine
Menge Arbeit für nichts, wie?«
Auf dem zweiten stand: »Wenn James sich verabschiedet, weise ihn an, einem Mann, dem er begegnen wird, ›Es gibt keine Magie‹ zu sagen.«
Und auf der dritten stand: »Und wichtiger als alles
andere: Verliere diese Schachtel nicht.«
Die Schrift war seine eigene gewesen.
Jahrelang hatte Pug die Schachtel geheim gehalten, die es ihm gestattete, sich selbst Nachrichten aus
der Zukunft zu schicken. Hin und wieder hatte er
über die Schachtel nachgedacht und sie in freien
Momenten studiert, denn er wusste, dass er irgendwann ihr Geheimnis ergründen musste. Es konnte
keine andere Erklärung geben, als dass er sich selbst
Botschaften schickte.
Acht Mal hatte er in den vergangenen Jahren die
Schachtel geöffnet und eine neue Botschaft darin gefunden. Er wusste nicht, wie er es wusste, aber wenn
eine neue Nachricht eintraf, spürte er, dass es Zeit
war, die Schachtel wieder zu öffnen.
Eine Botschaft hatte gelautet: »Vertraue Miranda.«
Sie war eingetroffen, noch bevor er seine Frau kennen gelernt hatte, und als er ihr zum ersten Mal begegnet war, erkannte er, wieso er sich die Botschaft
geschickt hatte. Miranda war gefährlich, mächtig und
eigensinnig und hatte damals eine unbekannte Größe
für ihn dargestellt.
Selbst jetzt vertraute er ihr noch nicht vollkommen. Er traute ihrer Liebe zu ihm und ihren Söhnen
und ihrer Ergebenheit an ihre gemeinsame Sache.
Aber sie hatte häufig ihre eigenen Pläne, ignorierte
seine Führerschaft und nahm die Dinge selbst in die
Hand. Seit Jahren verfügte sie über Agenten, die zusätzlich zu denen arbeiteten, die das Konklave einsetzte. Sie und Pug hatten im Lauf der Jahre ein paar
hitzige Auseinandersetzungen gehabt, und mehrmals
hatte sie zugestimmt, ihre Anstrengungen auf die
Ziele und Strategien zu beschränken, auf die das
Konklave sich geeinigt hatte, aber es gelang ihr
trotzdem immer zu tun, was sie wollte.
Er zögerte. Was auf dem Pergament stand, war
etwas, was er wissen musste, aber auch etwas, was er
sich zu wissen fürchtete. Nakor war der Erste, dem er
von den Botschaften aus der Zukunft erzählt hatte –
erst im vergangenen Jahr –, aber die Schachtel selbst
war immer noch allein Pug bekannt. Miranda hielt
sie für einen einfachen dekorativen Gegenstand.
Als er begann, das Pergament zu entrollen, fragte
sich der Magier – und nicht zum ersten Mal –, ob
diese Botschaften dafür sorgen sollten, dass eine bestimmte Sache passierte, oder eher dazu dienten, etwas Schreckliches zu verhindern. Vielleicht konnte
man das ohnehin nicht unterscheiden.
Er warf einen Blick auf das Pergament. Zwei Zeilen in seiner eigenen Handschrift. Die erste besagte:
»Nimm Nakor, Magnus und Bek mit, niemand anderen.« Die zweite lautete: »Geh nach Kosridi, dann
nach Omadrabar.«
Pug schloss die Schachtel, nahm das Pergament
und las die Nachricht noch mehrmals, als könnte er
eine tiefere Bedeutung hinter diesen beiden schlichten Zeilen finden. Dann lehnte er sich zurück und
trank einen Schluck. Kosridi erkannte er als den Namen der Welt, die Kaspar von Olasko von dem Gott
Banath gezeigt worden war; sie gehörte zu den Planeten, auf denen die Dasati lebten. Wo Omadrabar
war, wusste er nicht. Aber er wusste eins: Irgendwie
musste er einen Weg auf die zweite Existenzebene
finden – auf eine Ebene der Wirklichkeit, auf die
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