Feldpostnummer unbekannt
Einer schrie, ein zweiter lachte hysterisch, die anderen blieben stumm. Die U-Boot-Leute wußten, daß sie auch noch diese Bombe überlebt hatten.
Aber Achim Kleebach hatte keine Erfahrung. Er drehte durch. Er raste los. Er wollte hinaus. Er hatte nur Flucht im Kopf, Flucht aus diesem Gefängnis, mit dem er untergehen mußte, in dem es ihn in der nächsten Sekunde zerreißen mußte.
Er heulte und schrie, boxte um sich, verlor den Tauchretter. Er dachte nicht mehr an Irene. Fünf, sechs Fäuste hielten ihn fest, zerrten ihn zu Boden.
Und da war es für ihn vorbei. Er ließ den Kopf auf die Arme sinken, und er dachte an seine Mutter, und das brachte ihn um den Rest des Verstandes. Er sprang wieder hoch. »Lasst mich raus!« röchelte er, »ich will durchkommen!« Er fiel über einen Torpedo. »Meine Mutter«, schrie er, »Gerd ist doch schon gefal…«
Der nächste Einschlag saß neben dem Heck. Er hatte das Boot wiederum verfehlt, aber er riß es herum und schleuderte Kleebach gegen den Maat. Achim sah die gefräßigen Lippen und die lichternden Augen und seine Hände, die einen Halt suchten, schnappten zu wie eine Zange und würgten den Maat, der wild um sich schlug.
»Meine Mutter«, stöhnte Achim, »meine Mutter … und Gerd …«
Der nächste Einschlag riß Achim und den Maat auseinander. Und von jetzt ab kauerte der Pimpf stumm am Boden. Mit zersetztem Mut, mit aufgelöstem Bewußtsein, an der Grenze des Irrsinns, wartete er auf die nächste Bombe, auf die übernächste, auf alle weiteren …
Der Tag war grau, der Bahnhof schmutzig; in der Luft wirbelte der Ruß, und die Menschen strichen sich die Flocken aus den Gesichtern wie Tränen. An der Sperre gröhlte ein Betrunkener. Zwei Kettenhunde kontrollierten umständlich einen jungen Gefreiten, an dem ein streunender Hund vorbeilief, der keine Marschpapiere vorzuweisen brauchte, und jetzt gleichgültig vor dem Packwagen stehenblieb, aus dem die Feldpost ausgeladen wurde. Schicksal, gewogen und sortiert – bündelweise.
Daneben stieg ein Landser in den Waggon ein, der freiwillig an die Front zurückfuhr, weil ihn seine Frau in der Heimat betrogen hatte, dahinter sank im wilden Glück ein heimkehrender Unteroffizier seiner Mutter in die Arme, davor beendete ein junges Paar stumm seine Flitterwochen, dazwischen lief der Mann mit der roten Mütze, der in einer Minute seine Kelle heben, und dem Fronturlauberzug die Fahrt in die Ungewißheit freigeben würde.
Alltag des Krieges: Züge kamen, Züge fuhren – Menschen blieben …
Panzerleutnant Thomas Kleebach lehnte im Fenster des Abteils. Vor ihm stand Luise zwischen seinen Eltern. Er hatte alle drei gebeten, zu Hause zu bleiben, und nun waren sie doch alle drei mitgekommen: die Mutter, weil sie bis zuletzt mit ihm zusammenbleiben wollte, der Vater, weil er seine Frau nicht allein lassen konnte, und Luise, weil sie ihm noch etwas zu sagen hatte.
Thomas sah auf die Uhr; eine Minute Verspätung bereits, und für diese tranigen, lehmigen sechzig Sekunden hasste der junge Offizier den Fahrdienstleiter, den Stationsvorsteher, den Zugführer, die ganze Reichsbahn zusammen.
Seine Mutter trat näher an das Fenster heran. Sie wollte noch etwas sagen, aber ihr Gesicht zuckte stumm, und Thomas, der sie betrachtete, schien es, daß die Iris ihrer Augen heute verblichener und ihre Haare grauer wirkten als sonst.
»Komm wieder, mein Junge.« Maria Kleebach sagte es, als ob sie beten würde.
»Natürlich«, versetzte er leichthin.
Die Mutter nickte sorgenvoll.
»Ich brauche mindestens vierzehn Tage, bis ich wieder an der Front bin«, sagte Thomas mit forscher Stimme, »bis ich da unten in Afrika lande, ist der Krieg schon aus.«
»Es geht mächtig voran«, bemerkte der Vater hastig, und senkte den Kopf.
Nur eine Sekunde begegnete Thomas seinen Augen. Wie ertappt wandten sie den Blick voneinander ab, und der Leutnant schämte sich flüchtig, weil er froh war, die letzten beiden Urlaubstage hinter sich zu haben. So lange wußte er, daß sein Vater eine Lüge auf sich genommen hatte, die ihn zerbrechen mußte- und er konnte es nicht verhindern.
Die Mutter gab Vater Kleebach einen Wink. Die Eltern traten zwei Meter zurück. Nun stand Thomas nur noch Luise gegenüber. Die junge Frau war schön und blass, traurig und gefaßt. Sie trug ein hübsches, knappes Kostüm, und in diesem Moment wäre Thomas bereit gewesen, den gespenstischen Schatten zu überspringen, den Fleck zu vergessen, der an der Wand geblieben
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