Feldpostnummer unbekannt
war, als Luise das Bild ihres gefallenen Mannes abgenommen hatte.
»Ich hab' dich lieb …«, sagte Luise leise; sie sagte es gleich zu vier Soldaten, denn hinter Thomas streckten drei andere den Kopf zum Fenster heraus, um ihren Angehörigen ein letztes mal zuzuwinken.
»Lu…ise«, erwiderte er, ergriffen, überwältigt.
Dann kam der Pfiff. Der Zug löste sich mit einem umständlichen Stöhnen. Jetzt ein harter Ruck. Die Puffer knallten gegeneinander, die Räder drehten sich, die Funken fielen auf die Gleise. Thomas preßte die Hände gegen den Fensterrahmen, bis seine Knöchel so weiß wurden wie das Gesicht seiner Mutter. Er sah sie an, dann Luise, dann den Vater, und das so lange, bis sie ganz klein wurden, ganz winzig.
Thomas knallte das Fenster zu und wandte sich ab. Er sah in die Augen der anderen drei, und sie schwiegen alle vier. Mutter Kleebach stand noch immer am Bahnsteig und starrte mit aufgelöstem, flehendem Gesicht dem Zug nach, bis der letzte Wagen als dunkler Punkt in ihren Augen schwamm.
Die Familie Kleebach brauchte ein paar Minuten, bis sie wieder sprechen konnte.
»Luise«, sagte die Mutter behutsam, »du magst unseren Thomas doch?«
»Viel mehr als das«, erwiderte die junge Frau schlicht.
»Er muß wiederkommen«, sagte die Mutter wie zu sich selbst.
Luise nahm sie zärtlich am Arm und führte sie über den verdammten Bahnhof. Der Vater lief hinter den beiden Frauen her und nickte ein paarmal zerstreut mit dem Kopf, als bestätige er sich selbst, was für ein feiner Kerl sein Ältester ist. Er war erleichtert und zugleich beschwert: bis zuletzt hatte er Angst gehabt, Thomas könnte sich versprechen, und jetzt türmte sich eine andere Furcht zu einem riesigen Koloss, eine Furcht, die die erste Angst fast belanglos machte: komm wieder, dachte Arthur Kleebach, und er spürte dabei, daß es alle dachten, die ihre Söhne zum Zug geleitet hatten, und er wußte auch, daß es bei vielen vergeblich sein würde.
Thomas saß blicklos im Abteil. Er stülpte einfach eine Decke über sein Bewußtsein. Aber in ihm kochte etwas von unten herauf, drängte und zog, daß er fürchtete, es könnte seinen Brustkasten sprengen. Seine alte Abneigung gegen den Krieg war zu einem Hass geworden, den er bis in die letzte Pore spürte, der ihn stark machte und unvernünftig, und der ein Ventil brauchte, wenn der junge Offizier nicht daran ersticken sollte. Gerd gefallen, dachte er, Fritz vermißt, Mutter herzkrank, Vater im Käfig der Lüge, er selbst auf dem Weg zur Front, Achim auch schon abgestellt … und das alles auf Befehl einer bellenden Stimme, die aus dem Lautsprecher spuckte: »Gelobt sei, was hart macht!«
Gelobt sei, was Schluß macht, dachte Thomas Kleebach, Schluß mit diesem verfluchten Scheißkrieg!
Ein Tag Fahrtunterbrechung in Rom. Weiterleitung nach Neapel. Warten auf einen Truppentransport. Dann wieder eine Extrawurst: eine Ju 52. Glatter Flug. Landung in Nordafrika neben einem Kübelwagen, der schon bereitstand, um den Leutnant zu seiner Einheit zu fahren.
General Rommel bereitete ungeduldig seine Offensive vor, und der Wüstenkrieg brauchte Männer vom Schlage Kleebachs; er brauchte Menschen und Material, Verwegene und Verlorene, Verdammte und Glückhafte. Die Wüste war heiß, und zwischen ihren Sandkörnern versickerte das Blut schneller als anderswo.
Zwei Tage später erreichte Thomas Kleebach seine Einheit. Für seine Soldaten blieb er der Alte, wenn sie auch spürten, daß er sich verändert hatte. Er drückte jedem die Hand, und hatte für alle ein Wort, aber während er mit dem ersten sprach, war er mit den Augen schon beim nächsten.
»Major von Klingenstein ist gefallen«, meldete der Spieß, »er ist nicht einmal mehr dazu gekommen, seine Beutezigaretten zu rauchen.«
»Schade.«
»Oberleutnant Hammer ist auch tot.«
»Nicht schade … und sonst?«
»Im ganzen vier Offiziere und siebenundzwanzig Mann inzwischen gefallen«, schnarrte der Hauptfeldwebel herunter, »vierzehn verwundet.«
»Nachschub?«
»Acht Panzer und vierzig Mann.«
»Wo sind sie?« fragte der Kompaniechef.
»Abgesoffen im Mittelmeer«, antwortete der Spieß melancholisch. »Der ganze Transport«, setzte er verbittert hinzu, »bloß die Papiere sind bei uns eingetroffen.«
Thomas Kleebach zuckte die Schultern und stapfte weiter zu seiner behelfsmäßigen Schreibstube. Neue Offensive, dachte er, was soll's? Wenn wir Tobruk nehmen, müssen wir Kairo haben, nach Kairo brauchen wir Damaskus, und
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