Feldpostnummer unbekannt
nannte sich Kameradschaft, war eine Fronterscheinung und hatte nichts mit den Phrasen zu tun, mit denen man sie von klein auf gesäugt hatte.
Achim Kleebach konnte nicht schlafen. Er ging nach draußen. Es war Halbmond. Aber man sah ihn nur als flüchtigen Schimmer hinter dicken Wolkenbänken, die plötzlich einen einzigen Stern freigaben, der nichts Erhabenes an sich hatte, sondern tückisch wie das eine Auge Polyphems den Schauplatz anstarrte. Vielleicht überkamen ihn deswegen bange Vorahnungen.
Er begegnete der zurückkommenden Ablösung und kontrollierte seine Vorposten. Es blieb so still, wie er es sich gewünscht hatte. Nichts war zu sehen, außer waberndem, zittrigem Nebel, der die flache Landschaft wie ein gemeinsames Leintuch für Freund und Feind einhüllte. Es wirkte beklemmend. Der Ostwind spülte den Pesthauch des Todes über die einsame deutsche Stellung.
Achim Kleebach ging in den Bunker zurück und haute sich hin. Er zog schwer den Mief durch die Lungen. Die Ausdünstung der Kameradschaft roch nach Menschen und Angst, nach Traum und Verdauung.
Er konnte nicht einschlafen, aber sein Bewußtsein machte sich selbständig. Er sah Stalingrad im Lichterglanz breiter Boulevards, über die er entlaust und in frischer Uniform schritt, jetzt schon Leutnant, mit dem Urlaubsschein in der Tasche. Und er dachte: Es lohnt sich trotz alledem. Der Führer erhält seinen Sieg, und ich fahre nach Berlin, von den Eltern ersehnt und von den Nachbarn bestaunt, noch nicht zwanzig Jahre alt und schon ein Kriegsheld, der durchgekommen ist, der an den zuständigen Gedenktagen sich der anderen erinnert und im übrigen das Leben vor sich hat …
Endlich schlief er ein; er sollte um sechs geweckt werden, aber Unteroffizier Hanselmann ließ ihn weiterpennen. Erst als sich der Vorhang des Nebels langsam hob und jenseits des Sumpfes die ersten russischen Infanteristen zu erkennen waren, wollte er den Jungen aus seinen Träumen reißen, aber da besorgten es die Granaten an seiner Stelle.
Der Feuerüberfall der sowjetischen Artillerie war ungenau, fast schlampig. Die ersten Lagen jaulten in den Sumpf, die nächsten krepierten weit hinter der deutschen Stellung.
»Guten Morgen«, sagte Achim grinsend und gähnte demonstrativ. Er haute sich neben das SMG und betrachtete die sumpfige Steppe durch sein Glas. Der Schütze sah fragend zu ihm hin; der Oberfähnrich schüttelte den Kopf. »Das kann nicht wahr sein«, sagte er, »die wollen bloß ihre Toten holen.«
Aber er zählte sorgfältig: zwanzig, dreißig, fünfzig Rotarmisten, ein Zug, jetzt eine Kompanie, immer mehr, fast schon ein Bataillon.
»Besoffen!« murmelte Achim und sprang durch den Laufgraben zu Unteroffizier Hanselmann. »Kannst du dir das erklären?« fragte er.
»Vermutlich ein verrückter Kommissar«, brummelte der Kompaniebulle. »Lass sie dicht rankommen … die machen wir fertig wie nichts.«
»Aufgelegter Selbstmord!« rief Achim noch und ging zu seinem Befehlsstand zurück; wenn er die Nerven behielt, konnte ihm und seinen Leuten nichts passieren, gar nichts. Es war eine Situation, für die die Offiziere der anderen Seite vor das Kriegsgericht gehörten. Der Junge wußte nicht, daß es Bluff war, Bluff auf Leben und Tod …
Als Marion gegangen war, blieb Heinz Böckelmann noch lange sitzen. Endlich stand er auf und lief durch die Stadt wie ein Blinder. Er hatte kein Ziel. Er schämte sich. Einmal für Marion, und dann für sich – weil er so mit sich umspringen ließ. Mutter wenigstens sollte es nicht merken. Und morgen früh würde er weiterfahren zur alten Einheit, auf einen neuen Kriegsschauplatz, und alles andere ergab sich ja dann wohl von selbst. Er lief sich die Füße matt und den Kopf wund. Er lief vom Tiergarten-Viertel bis nach Kreuzberg, und er ging leicht gebückt, die Augen am Boden, die Arme schlaff nach unten. Er begegnete lachenden Gesichtern, müden Augen, ergebenen Mienen, gleichmütigen Blicken, aufmunternden Gesten, und das alles sah er nicht. Er wurde von einem Feldwebel zusammengebrüllt und ging weiter, ohne es begriffen zu haben. Er stieß mit einer Frau zusammen, ohne sich zu entschuldigen.
Schließlich stand er vor einem Häuserblock, der ihm bekannt vorkam und dachte zum erstenmal wieder geordnet. Natürlich, Kretschmeier, der Mitschüler, wohnte hier, den die Folgen einer spinalen Kinderlähmung vor der Einberufung bewahrt hatten. Er ging die Treppe hinauf und suchte das Namensschild. Er wollte gehen und klingelte dann
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