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den Schmerz nicht wegstreichen. Er sah Marion vor sich, seine Marion, in den Händen eines aufgeblasenen Zahlmopses, und er hörte seine geflüsterten Worte, und er spürte seinen kurzen Atem, und er sah, wie sie einander zulächelten, wie sie Sekt tranken und das Licht immer ärmlicher wurde. »So ist das also«, antwortete er zwischen den Zähnen.
»Und damit du es weißt: ich bereue nichts, gar nichts!« Sie beugte sich nach vorne. Ihr Gesicht wirkte beinahe gehässig. »Und ich tu's bei nächster Gelegenheit wieder.«
»Du tust es wieder …«, wiederholte Heinz langsam, fast träge. Jetzt drückte er seine Zigarette aus. »Dann wäre also alles zwischen uns erledigt?«
»Alles«, wiederholte Marion ohne Nachdruck.
Noch begriff der Junge nichts, aber er spürte es. Jedes Wort war eine Keule gewesen, die seinen Hinterkopf getroffen hatte. Er sah Marions unruhige Hände, ihr gequältes Gesicht, und er wußte, daß sie nicht glücklich war. Er erkannte die Chance, sie noch einmal festzuhalten, und stellte im nächsten Moment sachlich fest, daß sie ihn nichts mehr anging. »Und was sagen deine Eltern dazu?« fragte er, verdrossen über die eigenen Worte.
»Das ist mir egal«, verteidigte sie sich. »Jeder lebt sein eigenes Leben …«
»Und wie ich damit fertig werden soll … ist dir vermutlich wurscht.«
Jetzt sah Marion ihn an. Ihre Augen baten um etwas. »Nein«, sagte sie dann fast unhörbar. Ihr Kopf sank wieder nach unten. Ihre Pupillen wirkten dunkel. »Es tut mir leid«, fuhr sie fort, »um dich …« Sie zögerte, griff dann nach ihrer Handtasche, stand auf. »Du bist ein feiner Kerl, Heinz …«, setzte sie hinzu, betrachtete ihn noch einmal, wartete zwei, drei Sekunden ab, stellte fest, daß er wie angeschraubt dasaß, und ging dann.
Böckelmann sah ihr nach, aber sein Blick war nach innen gekehrt. Er überlegte nicht, daß er Marion jetzt folgen müßte, wenn er sie trotz allem behalten wollte. Seine Füße schliefen ein, aber in seinem Kopf ging es drunter und drüber. Und nacheinander war der Junge zuerst wie gelähmt, und dann traurig, und zuletzt zornig …
Achim Kleebach, der jüngste der Söhne, war jetzt fast zwanzig und kein Pimpf mehr, sondern ein Oberfähnrich und Zugführer in Russland, noch unreif im Leben, aber fit zum Sterben. Die Kriegsschule hatte die Patina von seinen Erlebnissen während der Wüstenschlacht wieder abgekratzt und seine Gesinnung neu aufpoliert. Mit der Bewährung hatte es Achim nicht mehr ganz so eilig – aber er stand noch immer zu seinem Führer.
Auch im Osten. Es war nicht mehr heiß, sondern kalt, die Luft nicht mehr trocken, sondern naß, nicht mehr staubig, sondern neblig, und der Soldat biß nicht mehr in den Sand, sondern wieder in das Gras. Gestern waren elf Kameraden gefallen, heute erst vier: aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben …
Der zügige Vormarsch der Panzervorausabteilung war vorübergehend ins Stocken geraten. Vorne und links lag sumpfige Kalmückensteppe, wertloses Land, doch hochbezahlt mit Blut. In den Tümpeln und Mulden steckten noch die Toten von gestern, mit wächsernen Gesichtern, mit steifen Armen, mit verdrehten Augen. Wenn der Wind darüberfuhr und den Schlamm bewegte, sah es aus, als wollten sich die Gefallenen zum zweitenmal ergeben.
Eine Brise trieb die trüben Wolken auseinander. Eine bleierne Sonne beleuchtete sie Szenerie des Grauens: Myriaden von Fliegen, die flatternden Sumpfvögel, die zerrissenen Pferdekadaver und die aufgedunsenen Toten, deren Gesichter sich noch schwarz färbten, bevor sie sich in Gallert verwandelten.
Es gab keine Sandflöhe mehr, die Achims Ablösung aus Afrika erzwungen hatten, sondern Läuse: Dutzende, Hunderte, eine ganze Armee Läuse, eine ganze Armee Wanzen und eine ganze Armee Ratten. Aber deswegen wurde noch kein Mensch aus Russland abberufen.
»Hoffentlich dreht der Wind«, sagte Unteroffizier Hanselmann, der Bulle des Zuges.
»Hab' ganz andere Sorgen«, erwiderte Oberfähnrich Achim Kleebach.
Er hatte die zur Erreichung des Offiziersrangs nötige Frontbewährung längst bestanden. Aber die Front ließ ihn nicht mehr los. Seit Monaten war er im Panzer gerollt, zu Fuß getippelt oder im Panjewagen geschockert. Die Motoren waren hinüber, die Rohre verschlissen, die Körper verbraucht und die Nerven kaputt. Achim hatte nur Blut gesehen und Trümmer, Ruinen und Tote, und Muschiks, die um ihr Leben bettelten. Er war an Einsatzkommandos vorbeigekommen, die jedes Leben
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