Feldpostnummer unbekannt
doch, weil alles gleich war. Kretschmeier war zu Hause. »Du?« sagte er, »du besuchst mich plötzlich?«
»Ja.«
»Warum?«
»Sind doch alte Schulfreunde, oder?«
»Ja … natürlich«, erwiderte Kretschmeier und ließ Böckelmann eintreten.
Er sah sich gewohnheitsmäßig um.
»Brauchst du was?« fragte der frühere Klassenkamerad.
»Ja«, versetzte Böckelmann, »Schnaps … kannst du mir welchen besorgen?«
»Natürlich.«
Kretschmeier betrachtete Böckelmanns verstörtes Gesicht und dachte: Der Mann hat viel mitgemacht, und freute sich einen Moment lang, daß er ein Krüppel war.
»Aber deine Staatsrobe mußt du ausziehen«, sagte er dann und ging an einen Schrank. Er warf Böckelmann ein paar Zivilklamotten zu. Sie paßten einigermaßen. So genau sah im Krieg ohnehin keiner hin.
Und dann zogen sie los. Von einer Kneipe in die nächste Stampe, und überall gab es einen Doppelten, der nach seiner dunklen Herkunft schmeckte.
Am Anfang schwieg Böckelmann noch verkniffen, dann endlich legte sich der Druck um seinen Kopf, und er erzählte Kriegserlebnisse, mit denen er noch nie renommiert hatte. Und sie zogen in die nächste Beize, obwohl sie den Kanal übervoll hatten.
Zuletzt landeten sie in der kleinen Gasse, in deren Nischen und Ecken die Nachtschattengewächse der Großstadt gediehen: Frauen mit müden Gesichtern, mit aufdringlichem Benehmen, klappernden Schlüsseln und festen Preisen, Frauen mit frechen Lippen und kalten Augen.
Sie paßten zum Fusel, den Böckelmann getrunken hatte. Und er zog, als er an ihnen vorbeiging, den Kopf zwischen die Schultern, als ob er durch den Regen liefe. Regen ist Wasser, dachte er. Wasser macht sauber, aber das hier ist dreckige Brühe …
Er feilschte mit einem Schatten herum, sah die schwarzhaarige Frau mit den geschlitzten Augen, das schmierige Lächeln in ihrem Gesicht, stellte sich vor, daß Marion, seine Marion, in ein paar Jahren genauso aussehen würde, griff in die Brieftasche, trat an die Frau heran, warf ihr ein ganzes Bündel Frontzulage vor die Füße, spuckte ihr ins Gesicht und ging …
Es war zehn Uhr morgens, der Wind jagte die Wolken ostwärts, und eine kraftlose Sonne beleuchtete eine grausame Szenerie. Jenseits der sumpfigen Steppe, aus dem Schatten einiger Baumgruppen heraus, die von Hecken umstanden waren, traten ein paar hundert russische Soldaten zum Sterben an. Die Taktik hatte sie dazu verurteilt, einen an sich wertlosen Sumpf zu erstürmen, aber er gehörte zu ihrer Heimat.
Oberfähnrich Achim Kleebach kauerte regungslos neben dem schweren MG und starrte durch das Glas. Er schüttelte den Kopf. Was sich drüben abspielte, ging über seinen militärischen Horizont. Die russische Arri schoß jetzt genauer, aber ihre Einschläge lagen immer noch so weit von der deutschen Stellung, daß sie keine Verluste hatten.
Die herankommenden Iwans würden mindestens zwanzig Minuten brauchen, um den Sumpf zu durchqueren. Zwölfhundert endlose Sekunden lang würden sie ihren Feinden ein klares Ziel bieten. Das übersah Achim, hatte ein schlechtes Gefühl dabei, aber schließlich war Krieg, und damit keine Zeit für Sentimentalität.
Er setzte das Glas ab, richtete sich auf, schlich geduckt und nervös die Grabenlinie entlang, um seine Leute ein letztes Mal aufzumuntern, die teils lachend, teils kopfschüttelnd dem seltsamen Angriff entgegensahen.
Nur der kleine Sawitzky, der Professor, dem die Nickelbrille das Aussehen eines Schuljungen gab, visierte über den Grabenrand, über viel zu große Entfernung hinweg, die Russen an. Achim schlug ihm mit flacher Hand ins Kreuz; der KOB-Gefreite fuhr erschrocken herum.
»Piß dir nicht vorzeitig in die Hosen, Kumpel«, sagte Achim lachend.
»Mindestens dreihundert Iwans«, erwiderte der Junge gepreßt und nahm den Blick nicht vom Sumpf.
»Na und?«
»Wir sind doch bloß fünfzig oder sechzig …«
Oberfähnrich Kleebach nahm den Karabiner Sawitzkys vom Grabenrand, entlud ihn, zog das Schloß heraus und fragte: »In wie viele Hauptbestandteile zerfällt die Braut des Soldaten?«
»In sieben«, antwortete der kleine Sawitzky mechanisch.
»Prima«, versetzte der Oberfähnrich, der ein ganzes Jahr älter war als der Professor. »Und die nimmst du jetzt, Junge, und baust sie dreimal auseinander und wieder zusammen.«
»Aber …«
»Befehl …! Im übrigen bleibst du an meiner Seite und zeigst mir deine Kunst, du Armleuchter.«
Es tat Achim gut, vor seinen Leuten seine Kaltblütigkeit zu
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