Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
ganze Zeit darauf verwenden konnte, mehr über ihren Großvater herauszufinden, stürzte sie sich eifrig in ihre Studien.
Vielleicht lag es ja mehr an ihr als an der Sache, aber was sie über die Anfänge der Gentry erfuhr, fand sie nicht besonders aufregend. Ursprünglich war die Gentry nämlich einfach eine Vereinigung von Leuten, die Schnaps und Zucker über den Kanal nach England schafften und in Kartoffelkellern oder irgendwelchen Lagerräumen versteckten. Erst als sich die Schmugglerbande vergrößerte, fing das Ganze an, spannend zu werden. Und so richtig faszinierend wurde es, als Rafe Gallant ins Spiel kam. Das schmale grüne Buch beleuchtete ihn von allen Seiten.
Rafe Gallant übernahm als Nachfolger seines Vaters James die Führung der Gentry , las Felicity. Seinen Fähigkeiten verdankte die Gentry ihren kometenhaften Aufstieg, er war es, der die gewöhnliche Schmugglerbande zu einer enorm erfolgreichen, in aller Welt berühmten und hoch geachteten Handelsgesellschaft formte. Sein Verdienst war es auch, dass Wellow sich von einem abgelegenen Fischerdorf zu einer florierenden Hafenstadt mit zahlreichen architektonisch höchst bemerkenswerten Bauten entwickelte.
Felicity verschlang gierig alles, was über ihren genialen Großvater geschrieben worden war.
Zuerst verbesserte Gallant die für den Schmuggel wichtige Infrastruktur in Wellow. Unter anderem ließ er ein komplexes System von Tunneln und unterirdischen Fluchtwegen anlegen, das ein Meisterwerk fortschrittlichster Ingenieurskunst war.
Seine umfangreichen Neuerungen im Seeverkehr erleichterten den sicheren Transport der Schmuggelware. Er erfand viele Geräte und Techniken, die später auch weit über die Gentry hinaus in der Wirtschaft und in der Verwaltung genutzt wurden.
Felicity war begeistert. Was für ein faszinierender Mann! Sie hätte ihn zu gerne kennengelernt. Und noch lieber wäre sie selbst ein Mitglied der Gentry mit so einem abenteuerlichen Leben gewesen.
Schon in jungen Jahren war Rafe Gallant ein tüchtiger und mutiger Seemann: Es hieß, er sei furchtlos wie der Teufel und unfehlbar gewissenhaft wie ein Engel. Seemännisches Können ging ihm über alles; er gründete die Segelschule von Wellow, die leider nicht mehr existiert. Er spendete auch viel Geld für öffentliche Einrichtungen: Die Hafenmeisterei von Wellow, das Stadtarchiv und die Bibliothek wurden mit Mitteln erbaut, die er zur Verfügung stellte.
Kein Wunder, dass alle angenommen hatten, sie könnte segeln, dachte Felicity. Bestimmt fragten sich die Leute, wieso die Enkelin dieses Seehelden eine vollkommen unsportliche Stubenhockerin war. Offenbar hatte sie nichts von seinen Talenten geerbt. Vielleicht würde das neue Baby mehr von ihm haben?
Gallants Charme und sein luxuriöser Lebensstil fielen jedem auf und prägten die öffentliche Meinung vom ihm nachhaltig. Dies verschleierte sogar sein wahres Wesen, das eines kultivierten Geschäftsmannes und eines kühnen, hochintelligenten Abenteurers. Er hatte zahlreiche Kinder, aber mehr als sie alle lag ihm das Gedeihen der Gentry am Herzen. Drei seiner Nachkommen stammen aus seiner ersten Ehe, zwei, Ruby und Tom, aus der zweiten mit der innig geliebten Rose, die im Kindbett starb.
Felicity blickte auf das Buch und fühlte sich mit einem Mal schrecklich einsam. Ruby und Tom, ihr Vater Tom. Es hatte etwas Unheimliches, seinen Namen zu lesen und aus einem Buch etwas über sein Leben zu erfahren, weil er nicht bereit war, ihr davon zu erzählen.
In Rafe Gallants Zeit fällt auch der Aufstieg einer mythischen Gestalt, die in den Geschichten, die sich um die Gentry rankten, eine Schlüsselstellung einnehmen sollte, die Herrin der Sturmwolke . Sie war ein Schreckgespenst, das den Feinden der Gentry Angst machen sollte, eine böse Hexe, die Macht über das Wetter hatte. Angeblich begleitete sie das Flaggschiff der Schmugglerflotte, die berühmte Sturmwolke , auf ihren Fahrten.
Felicity runzelte die Stirn. Eine Hexe, die Macht über das Wetter hatte. Die Herrin der Sturmwolke – das kam ihr bekannt vor. Sie bückte sich hinunter zu ihrer Tasche, zog das rote Buch heraus und schlug es auf.
Von diesem Tag an war ihr Schicksal besiegelt, las sie; denn es ist ein Verbrechen gegen die Ordnung der Welt, ein Kind seinen liebenden Eltern zu stehlen, und jedes Mal, wenn sie es tat, wurde ein Fleckchen ihrer Seele schwarz. Von diesem Tag an war der Untergang der Herrin unausweichlich gewiss.
Die Herrin … Felicity blätterte
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