Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
und ohne jede erkennbare Ursache sprang das Porzellanfigürchen aus den Fingern der Großmutter und zerschellte auf dem steinernen Absatz vor dem Kamin. Felicity stand starr vor Schrecken und Verblüffung da.
»Also wirklich, Felicity!«, rief die Großmutter tadelnd. »Und noch dazu das Lieblingsfigürchen deiner Mutter!«
Mrs Gallant stürzte ins Zimmer. »Was ist denn passiert? Oh! « Sie kniete sich hin und untersuchte die Scherben.
»Ich habe Felicity gesagt, sie soll die Finger davon lassen. Aber sie will einfach nicht auf ältere und klügere Leute hören, das kennt man ja.«
Felicity starrte sie empört an. »Das ist von vorn bis hinten gelogen, das ist –«
»Felicity, es reicht!« Die Mutter klaubte betrübt die Scherben zusammen. »Wie kannst du es wagen! Geh in dein Zimmer, sofort.«
Felicity öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, aber dann ließ sie es. Als sie bedrückt die Treppe hinaufstieg, bereute sie mehr denn je, dass sie Henry so gekränkt hatte. Sie hätte dringend jemanden gebraucht, dem sie ihren Kummer anvertrauen konnte.
Ihr wurde jetzt erst richtig bewusst, wie einsam sie war. Es war bitter, aber was ihre Großmutter gesagt hatte, stimmte: Felicity hatte keine Freunde. Henry hätte ihr Freund werden können und sie hatte ihre Chance prompt vertan und ihn vergrault. Jetzt gab es niemanden mehr, von dem sie etwas Genaueres über ihren Großvater und über die Gentry erfahren konnte. Wieso musste auch noch Alice ausgerechnet jetzt verreisen? Felicity seufzte. Die freundliche alte Dame fehlte ihr.
Poppy steckte den Kopf zur Tür herein. »Vorhin in der Bibliothek hat mich Miss Cameron angesprochen«, sagte sie zu Felicity, die bedrückt auf ihrem Bett saß. »Es ging um irgendein Buch. Sie lässt dir ausrichten, du sollst im Lauf der Woche bei ihr vorbeischauen.«
Felicity erschrak. War die Bibliothekarin irgendwie dahintergekommen, dass sie das alte Buch mit dem roten Ledereinband hatte? Würde sie deswegen Ärger bekommen? Immerhin war es Diebesgut – Abednego hatte es einfach aus der Bibliothek mitgenommen.
»Sie hat ganz schön geheimnisvoll getan«, fuhr Poppy fort. »Ich sollte es dir unter vier Augen sagen, weil es eine etwas heikle Angelegenheit sei.« Die vorletzten drei Worte sprach Poppy mit spitzem Mund in dem geziert flötenden Ton aus, der für Miss Cameron typisch war. »Ich hatte keine Ahnung, dass es in der Welt der Bibliotheken so aufregend zugeht.« Sie grinste. »Und das hier soll ich dir geben.«
Sie streckte Felicity einen Briefumschlag hin. Felicity öffnete ihn zögernd. In dem Kuvert steckte eine Karte. Unendlich erleichtert und zugleich verwundert las sie, was darauf stand:
Das vorbestellte Werk liegt jetzt zur Einsicht in der Bibliothek bereit:
Titel: Rafe Gallant und die Gentry von Wellow
Autor(en): Dill, Pinkerton und Lane
Sign.: 375/6449
»Alles in Ordnung?«, fragte Poppy.
»Ja«, sagte Felicity. Dann ging ein Leuchten in ihrem Gesicht auf. »Alles bestens.«
Gleich nach dem Mittagessen eilte Felicity in die Bibliothek. Miss Cameron saß hinter der Theke am Eingang.
»Ah, Felicity«, sagte sie. »Du kommst sicher wegen dieser Vorbestellung.«
»Ja, genau.« Felicity bemühte sich nach Kräften, ihre Aufregung zu verbergen.
Miss Cameron sperrte ein Schränkchen auf und nahm ein dünnes, grün eingebundenes Buch heraus. »Tut mir leid, das Buch gehört zum Präsenzbestand. Du kannst es nicht mit nach Hause nehmen, sondern nur hier in der Bibliothek lesen.«
Felicity nahm das Buch und Miss Cameron wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Nach einer Weile schaute sie irritiert auf: Felicity stand immer noch da.
»Ist noch etwas?«
»Eigentlich nicht, bloß …« Felicity stockte. »Es ist nur … ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich den Titel bestellt habe.«
Miss Cameron lächelte höflich. »Wirklich merkwürdig.« Sie streckte die Hand aus. »Soll ich es wieder an seinen Platz stellen?«
»Nein.« Felicity drückte das Buch an ihre Brust. »Nein, danke, so habe ich es nicht gemeint.«
Felicity ging jetzt täglich in die Bibliothek, um das grüne Buch und dann noch etliche andere Werke zu lesen, die Miss Cameron ihr besorgte. Sie war froh, der Großmutter und ihren bösartigen Bemerkungen zu entkommen.
Zu Hause stand sie dauernd unter Beschuss, aber in der Bibliothek war es friedlich, ja geradezu gemütlich. Miss Cameron war in ihrer schweigsamen, zurückhaltenden Art immer freundlich und hilfsbereit. Jetzt, wo Felicity ihre
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