Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
Sie lässt einen nicht mehr los. Wenn ich das Buch lese, verfolgt sie mich oft noch tagelang bis in meine Träume.« Sie lächelte schmerzlich. »Manchmal träume ich, ich wäre sie.«
Felicitys Herzschlag setzte einen Moment lang aus: Genauso erging es ihr selbst; ja, sie hatte schreckliche Albträume. Aber manchmal wollte sie nach dem Aufwachen am liebsten sofort wieder in ihren Traum eintauchen. Sie musterte die Bibliothekarin. Was sie sah, war eine durch und durch vernünftige und korrekte Person, mit der sie wahrscheinlich in ihrem Leben schon mehr Zeit verbracht hatte als mit ihren nächsten Verwandten, nicht die kleinste Spur von irgendetwas Fantastischem war an ihr zu bemerken. Felicity dachte an die unheimliche Fremde, die sich bei ihr zu Hause eingenistet hatte, und an ihre unerklärlichen Fähigkeiten: wie sie ganz plötzlich und vollkommen lautlos vor ihr auftauchte, wie sie Felicity zu Boden werfen oder an die Wand drücken konnte, ohne sie auch nur zu berühren, wie grauenhaft sie ihr Aussehen veränderte, wenn sie zornig war.
Und mit einem Mal wurde Felicity bewusst, dass sie Miss Cameron glaubte. Ja, die Bibliothekarin sagte die Wahrheit. Sie erkannte, dass sie aufhören musste, auf Leute zu hören, die ihr einreden wollten, all die seltsamen Ereignisse und Zufälle der letzten Monate seien leicht zu erklären und hätten nichts zu bedeuten.
»Warum haben Sie mir das nicht schon früher gesagt?«, fragte sie.
Miss Cameron zog eine Augenbraue hoch. »Hättest du mir geglaubt?«
Felicity lachte nervös. Natürlich nicht. Es fiel ihr ja sogar schwer, zu glauben, dass dieses Gespräch wirklich war.
»Du wusstest so wenig über deine Familiengeschichte«, sagte Miss Cameron. »Ich wollte warten, bis du wenigstens einmal angefangen hattest, selbst etwas darüber herauszufinden.«
»Ach so!« Felicity schlug sich mit der Hand an die Stirn. » Sie haben das Buch über die Gentry für mich bestellt, oder?«
Miss Cameron lächelte.
»Aber woher wissen Sie so gut Bescheid über das alles?«
»Ich bin schließlich die Bibliothekarin von Wellow.« Miss Cameron nahm das rote Buch und schlug es auf.
»Also sprach der Herr des Himmels: ›Ich will jedem Element eine Hüterin geben, die es im Zaum hält und meine Geschöpfe beschützt.‹«, las sie vor.
Felicity erkannte den Text sofort wieder, sie konnte die Passage auswendig und sprach sie mit, als Miss Cameron weiterlas:
» Und er las eine Geschichte von ihrer Entstehung vor, von vier Schwestern, deren Pflicht es war, die Elemente im Zaum zu halten. Das war ein freudiges Ereignis. Die Worte, die er sprach, fielen vom Himmel, und die Orte, wo sie landeten, wurden heilig mit besonderen Kräften: Wenn dort jemand eine Geschichte vorlas, wurde sie wahr.«
»Abergläubisches Geschwätz.« Henry schnaubte verächtlich.
Miss Cameron lächelte geheimnisvoll. »Die Autoren hatten recht mit ihrer Theorie über die Urgeschichten«, fuhr sie fort. »Deine Großmutter, Felicity, hat all diese Geschichten geschaffen. Sie und ihre drei Schwestern kannten die geheimen Orte, an denen Geschichten Wirklichkeit wurden. Aber die Herrin konnte der Versuchung nicht widerstehen, aus ihrem Wissen persönlichen Vorteil zu ziehen und sich zu bereichern: Sie erzählte am liebsten Geschichten, die davon berichteten, dass sie wertvolle Besitztümer erwarb … oder auch andere Dinge. Und das wurde dann jedes Mal wahr.«
»Wie in dem Märchen vom Geist in der Wunderlampe, der einem alle Wünsche erfüllt?«, fragte Martha.
»Genau. Die Autoren des Buchs waren darauf aufmerksam geworden und nahmen sich vor, die Geschichten möglichst vollständig wiederherzustellen. Sie suchten deswegen in der ganzen Welt nach Erzählungen mit immer wiederkehrenden gleichen Motiven und trugen sie zusammen – sie sammelten Belege, die ihre Theorie bestätigten, wenn man so will. Das war natürlich nicht so einfach, denn deine Großmutter hatte keine Mühe gescheut, ihre Spuren zu verwischen. Aber die drei kamen ihr trotzdem auf die Schliche. Sie tobte vor Zorn, als sie erfuhr, dass ihr Machtmissbrauch aufgedeckt worden war. Deswegen brachte sie die Wissenschaftler um und vernichtete alle Exemplare des Buchs bis auf zwei. Dasjenige, das du bei dir hast, ist unvollständig: Sie hat die Einführung rausgerissen, in der die Autoren erklären, was sie mit ihrer Arbeit bezwecken.«
»Wusst ich’s doch, dass da was fehlt«, sagte Martha triumphierend.
»Hat mir Abednego das Buch deswegen
Weitere Kostenlose Bücher