Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
herein.
Schweigend begann die Familie zu essen. Eine Weile war nur das leise Klappern von Besteck zu hören, doch dann fing die Großmutter wieder mit ihren Sticheleien an. Felicity hatte in den vergangenen Wochen die gemeinsamen Mahlzeiten fürchten gelernt.
»Unsere kleine Felicity hat ihre Ferien scheinbar so richtig ausgekostet«, bemerkte die alte Dame. »Das ist schön für sie, aber von einer pflichtbewussten Tochter sollte man doch erwarten, dass sie ihre Mutter im Haushalt ein bisschen entlastet, nicht?«
Felicity nahm sich stumm Karotten und starrte auf die jadegrün gemusterte Tapete.
»Nun ja, es ist glücklicherweise noch nicht zu spät«, fuhr die alte Dame fort und zupfte mit einer eleganten Handbewegung an ihrer untadeligen Frisur. »Sie kann sich immer noch bessern.«
Felicity musterte sie. Worauf lief das hinaus?
Die Großmutter spielte an ihrer Perlenkette. »Man muss schließlich bedenken, dass Felicity bei ihrem Aussehen wahrscheinlich nie einen Ehemann finden wird. Sie sollte beizeiten lernen, sich nützlich zu machen, damit sie ihren Eltern nicht zu sehr zur Last fällt.«
»Ich kann später ja arbeiten gehen«, murmelte Felicity und sah die hinterhältige Alte, der sie so machtlos ausgeliefert war, trotzig an. Sie wusste, dass sie ihre Feindin nur noch mehr gegen sich aufbrachte, aber das war ihr in diesem Moment egal.
Die Großmutter warf ihr einen Blick zu, aus dem blanker Hass sprach und der Felicity das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Wenn sie ein bisschen mehr zu Hause bliebe, würde sie vielleicht bald bessere Manieren annehmen«, sagte sie. »Ich habe den Eindruck, sie bewegt sich in letzter Zeit zu viel in schlechter Gesellschaft.«
Ach so, ihre Freunde! Die Großmutter wollte sie von ihren Freunden fernhalten. Die Mutter wirkte nervös, offenbar konnte sie die gespannte Stimmung nur schwer aushalten.
»Natürlich helfe ich gern«, sagte Felicity, um die Situation zu entschärfen. »Aber erst am Nachmittag – schließlich soll ich ja nicht die Schule schwänzen, oder?«
»Nie um eine Antwort verlegen, die Kleine«, murmelte die alte Dame.
Die Mutter versuchte, die Sache zu einem versöhnlichen Ende zu bringen. »Na, dann ist doch alles wunderbar, nicht?«
Die Großmutter kniff missbilligend die Lippen zusammen, was ihrem aristokratischen Gesicht prompt alle Schönheit nahm. »Ich denke, es wird genügen«, sagte sie.
Felicity blickte auf das gestärkte Leinentischtuch, das ihre Mutter vor vielen Jahren sorgfältig ausgewählt hatte. Aus den Geschichten in ihrem Buch wusste sie nur allzu gut, dass sie ihre Großmutter besser nicht reizen sollte. Ihr war klar, dass sie sich und ihre Familie in Gefahr brachte, wenn sie sich nicht zusammennahm, aber sie konnte einfach nichts dagegen tun. Die alte Frau rief einen rebellischen Zug in Felicity wach, den sie nur schwer im Zaum halten konnte.
Am nächsten Tag fing die Schule wieder an. Noch nie waren die Unterrichtsstunden derart langsam dahingeschlichen, aber endlich läutete die Glocke, und die drei Kinder liefen zur Bibliothek.
»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte Felicity ängstlich, »sonst macht meine Großmutter wieder Stunk.«
»Also«, fragte Henry und schnitt dicke Scheiben von dem Kuchen, den seine Mutter spendiert hatte, »warum ist sie nach Wellow gekommen?« Felicity schenkte Tee ein.
»Sie glaubt, dass gerade eine Urgeschichte im Werden ist, die ihren Untergang bringen soll«, sagte Miss Cameron so ruhig und gelassen wie immer. »Und die will sie aufhalten.«
Sie lächelte Felicity freundlich zu. »Ich kann mir vorstellen, dass es ganz schön schwer für euch ist, das alles zu schlucken, was ich euch da zumute, darum habe ich noch jemanden eingeladen, der euch ein bisschen mehr darüber erzählen kann …«
Vom Eingang her war das gedämpfte Schlagen der schweren Tür zu hören, dann das Geräusch von Schritten.
»Ah, gerade rechtzeitig«, sagte Miss Cameron.
Die Tür des Lesezimmers ging auf. Ein Junge trat ein – sein Gesicht war Felicity nur allzu vertraut.
»Darf ich vorstellen?«, sagte Miss Cameron. »Das ist Jebediah Tempest; ihr könnt ihn Jeb nennen, das ist ihm lieber.«
Jeb Tempest war die Situation sichtlich unangenehm. Er war leicht errötet und wirkte verlegen.
Henry machte keinerlei Anstrengung, seine Gefühle für den Neuankömmling zu verbergen. »Was will der denn hier?«, rief er in einem feindseligen Ton.
Jeb warf ihm einen finsteren Blick zu. »Wenigstens bin ich keiner
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