Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
ängstlichen Blick zu.
»Keine Sorge, ich werde es ihnen bestimmt nicht verraten. Wahrscheinlich würden sie mich an meinem Schreibtisch anketten und mich zwingen, die nächsten zwanzig Jahre alle möglichen Forschungen dazu anzustellen. Die Verfasser des Buchs hatten eine eigenartige Theorie. Sie nahmen an, dass bestimmte Geschichten und Märchen, die in vielen verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt verbreitet sind, ursprünglich aus ein und derselben Quelle stammen. Diese sogenannten ›Urgeschichten‹ waren nicht einfach frei erfunden, sondern berichteten von wirklichen Ereignissen und wurden im Lauf der Generationen immer und immer wieder erzählt. Und außerdem verstiegen sich die Autoren zu der fantastischen Behauptung, dass es auf der Welt verschiedene Orte gebe, die eine ganz besondere Eigenschaft haben: Wenn man dort eine Geschichte laut vorträgt, wird sie wahr.«
»Genau das steht im Vorwort zu dem Buch«, rief Felicity aufgeregt.
»O Mann, es ist zum Heulen«, stöhnte Henry. »Nicht alle beide ! Das hält doch kein Mensch aus.«
»Halt die Klappe, Henry.« Martha redete ungerührt weiter: »Also reisten sie durch die Welt, verzeichneten das Vorkommen verschiedener Geschichten und suchten, wie es scheint, nach den Orten, wo die Geschichten wahr werden. Wie man sich denken kann, nahm sie niemand so richtig ernst.«
»Tatsächlich? Nicht zu fassen«, sagte Henry ironisch.
»Als sie wieder zurückkehrten«, fuhr Martha fort, »fanden sie keinen Verleger, der ihr Buch herausbringen wollte, darum ließen sie schließlich hundert Exemplare auf eigene Kosten drucken. Und dann, dann … verschwanden sie. Das hat in der literarischen Welt immer wieder zu den verschiedensten Spekulationen geführt und sie eigentlich erst bekannt gemacht. Na ja, die meisten Gelehrten glauben, es hat sie überhaupt nie gegeben.«
»Sie sind verschwunden?«, fragte Felicity. »Die Verfasser sind verschwunden?«
»Die Autoren und das Buch. Alle drei Autoren und alle hundert Exemplare.«
Felicity sah das Buch nun mit neuen Augen. »Und eins davon stand die ganze Zeit unbeachtet in der Bibliothek von Wellow.«
»Was dafür spricht, dass sich außer dir praktisch nie jemand hierherverirrt«, bemerkte Henry. Er wandte sich an Martha. »Bestimmt ist es bloß ein Jux. Jemand hat das Buch gemacht und ins Regal gestellt, um die Leute an der Nase rumzuführen.«
Martha drehte das Buch hin und her und inspizierte es aufmerksam. Sie verzog das Gesicht. »Könnte sein«, meinte sie. »Ich verstehe nicht genug davon. Aber diese vergilbten Ränder da sehen doch ziemlich echt aus: Wenn es eine Fälschung ist, dann ist es jedenfalls eine alte Fälschung.« Ihr Blick wanderte über den Buchrücken, sie runzelte die Stirn, dann hielt sie das Buch hoch und beäugte es angestrengt. »Ich glaube, da fehlt was«, sagte sie.
Felicitys Herz setzte einen Moment lang aus. »Bist du sicher?«, fragte sie ängstlich.
Martha nickte. »Da in der Bindung ist eine Lücke«, sagte sie. »Sieht so aus, als wäre da mal was gewesen, das jetzt fehlt, vielleicht eine Einführung oder so was.«
»Aber warum?« Felicity wurde zornig bei dem Gedanken, dass jemand ihr kostbares Buch beschädigt hatte.
»Du würdest staunen, wenn du wüsstest, wie viel Vandalismus es in Bibliotheken gibt«, sagte Martha.
»O ja, das sind wahre Brutstätten des Lasters und Verbrechens«, bemerkte Henry. »Auch deswegen halte ich mich lieber davon fern.«
»Wovon handeln die Geschichten in dem Buch?«, fragte Martha. »Vielleicht wollte die Person, die da Blätter rausgerissen hat, eine ganz bestimmte Geschichte haben.«
»Von einer Frau, die Macht hat über den Wind. Sie ist eine von vier Schwestern, die als Hüterinnen der Elemente eingesetzt wurden, aber das Buch erzählt hauptsächlich von ihr. Manchmal wird sie ›die Herrin‹ genannt. Ich glaube, sie ist identisch mit dieser ›Herrin der Sturmwolke ‹, die in den Gentry-Geschichten vorkommt. Dort ist sie eine Art Schutzpatronin von Abednegos Schiff. Wahrscheinlich hat er sich deswegen für das Buch interessiert.«
Martha blätterte in dem Buch. »Die Hüterinnen«, sagte sie und nickte.
»Hast du von denen schon mal gehört?«
»Ja, der Mythos ist in vielen Ländern verbreitet«, sagte Martha. »Warte mal, ich gehe ein Buch holen …« Sie ging hinaus.
»Hier«, sagte sie, als sie nach ein paar Minuten zurückkam, »eine Sammlung von Seemannsgeschichten aus aller Welt.«
Felicity nahm den Band, den Martha
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