Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
gegeben?«, fragte Felicity. »Weil er wollte, dass ich dahinterkomme, wer meine Großmutter wirklich ist?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Miss Cameron. »Abednego hat sich seiner Herrin gegenüber bis jetzt immer absolut loyal verhalten. Aber er hat es dir gegeben, aus welchem Grund auch immer. Und das war gut so, andernfalls hättest du die Wahrheit nie erfahren.«
Felicity dachte über die Gestalt nach, die in dem Buch beschrieben wurde: eine Frau, die mit bloßer Willenskraft Unwetter herbeirufen konnte. Sie erinnerte sich, wie sie an dem Abend, an dem die Sturmwolke nach Wellow gekommen war, in ihrem Zimmer unter dem Dach am Fenster gestanden hatte, sah im Geist den Regen gegen die Scheibe peitschen und hörte, wie der Wind wild am Rahmen rüttelte. Das war das Werk der Großmutter gewesen.
»Weiß meine Großmutter was von Ihnen?«, fragte Felicity besorgt. »Glauben Sie, sie könnte Sie verdächtigen, dass Sie mir alles verraten haben?«
»Niemand weiß, was deine Großmutter im Schilde führt«, sagte Miss Cameron. »Und sie ist so von sich eingenommen, dass sie wahrscheinlich nicht auf den Gedanken kommt, du könntest ihr gefährlich werden. Aber du musst dich in Acht nehmen, damit das so bleibt. Du darfst sie nicht reizen, Felicity, auf keinen Fall.«
Felicity lief es kalt über den Rücken. Miss Cameron war nicht der Typ, der dazu neigte, die Dinge zu dramatisieren. Wenn sie sagte, sie müsse vorsichtig sein, bedeutete das vielleicht, dass ihr Leben davon abhing.
Die Bibliothekarin blickte zum Fenster hinaus. Es war schon dunkel. Sie drehte sich wieder um und musterte der Reihe nach die drei Kinder: In Felicitys Gesicht spiegelte sich Furcht, in Henrys verhaltener Ärger und in Marthas gespannte Neugier.
»Ich glaube, für heute ist es genug«, sagte sie nach einer Weile. »Ich schlage vor, ihr geht jetzt nach Hause. Morgen Nachmittag treffen wir uns wieder hier – natürlich nur, wenn ihr Zeit habt.«
Natürlich würden sie da sein! Um nichts in der Welt hätten sich Felicity und Martha und sogar Henry die Gelegenheit entgehen lassen, mehr zu erfahren.
Fünfzehntes Kapitel
D
u darfst sie nicht reizen, Felicity, auf keinen Fall.
Insgeheim hatte Felicity immer davon geträumt, sich eines Tages plötzlich mitten in einem Abenteuer wiederzufinden, wie es die Heldinnen ihrer Bücher erlebten. Aber die Wirklichkeit war weit weniger amüsant und fühlte sich viel bedrohlicher an als die Welt der Literatur. Miss Camerons Worte hallten immer noch in ihrem Kopf nach. Ihr war ganz schwindlig von den Neuigkeiten, die sie erfahren hatte.
Ihr graute bei dem Gedanken an zu Hause. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie die schockierende Wahrheit kannte, sie musste sich genauso benehmen wie immer. Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, wie die Felicity, die heute Morgen das Haus verlassen hatte, gewesen war. Diese Person schien jetzt Lichtjahre entfernt zu sein.
Im Wohnzimmer saß Mr Gallant und starrte abwesend zur Decke hinauf. Felicity blieb in der Tür stehen und betrachtete ihn traurig. Was war mit ihm passiert? Es musste etwas mit der Großmutter zu tun haben. Es war bestimmt kein Zufall.
Nichts von alledem, was seit ihrer Ankunft geschehen war, konnte ein Zufall sein.
Mr Gallant warf ihr einen Blick zu und grinste selig. Sein Gesicht war gerötet, sein Haar zerzaust. »Stimmt irgendwas nicht?«, fragte er.
»Nein, Papa.«
»Dann starr mich nicht so an, Kind«, sagte er und wackelte irritiert mit dem Kopf. »Es ist unhöflich, seine Mitmenschen anzustarren.« Er lachte leise glucksend. »Das kann böse Folgen haben, wenn man unhöflich ist.«
Dieser Mann da war nicht ihr Vater, dachte Felicity. Plötzlich spürte sie etwas Unangenehmes in ihrem Rücken und drehte sich um. Auf dem Flur näherte sich die Großmutter. Es war, als wehte ein eisiger Windhauch vor ihr her. Felicity wurde vor Angst ganz flau im Magen: Diese Frau hatte alle Bewohner des Hauses fest im Griff. Miss Cameron hatte recht: Felicity durfte die alte Frau nicht reizen; sie war zu allem fähig, wenn sie zornig wurde.
Felicitys Mutter war hochschwanger und bewegte sich sehr schwerfällig. Man sagt, dass Frauen aufblühen, wenn sie ein Kind erwarten, aber auf Mrs Gallant traf das nicht zu. Sie wirkte erschöpft und leidend. Felicity und Poppy halfen ihr und stellten das Gemüse auf den Tisch, die Großmutter brachte mit großem Getue Mutters heiß geliebte Sauciere mit dem blauen Blümchenmuster
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