Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
mitzureißen drohte, wieder ab. Ein Passagier schrie auf in Todesangst – Villainous zuckte zusammen. Seine Mutter stand neben ihm, die Glaskugel in den teigigen Händen. Sie hatte schnell gelernt, damit umzugehen, und genoss ihre Macht.
»Die Ladung gehört uns«, rief sie und schwenkte triumphierend die Sturmmaschine. »Jetzt geht es wieder aufwärts.«
Villainous blickte hinüber zum Schiff. Er sah eine Frau, die sich mit der einen Hand an die Reling klammerte und mit der anderen ihren kleinen Sohn festhielt. Sie war ganz blau vor Kälte. Villainous hörte den verängstigten Jungen schluchzen, und er hörte, wie die verzweifelte Mutter ihrem Kind im Angesicht des Todes sagte, wie sehr sie es liebte. Villainous hatte schon viele schlimme Dinge getan, aber er hatte noch nie jemanden getötet. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so furchtbar sein würde. Die Schreie der Menschen schnitten ihm ins Herz.
»Aufhören!«, rief er. »Bitte, Mutter, hör auf. Ich halt das nicht aus, ich will das nicht. Wir brauchen diese Ladung doch gar nicht.«
Mrs Usage sah ihn höhnisch an. Ihr war, als fühlte sie in ihren Adern die Macht der Sturmmaschine pochen. »Spinnst du?«, fauchte sie. »Ich hab grade erst angefangen! Dieser mickrige Kahn da ist –«
»Nein, das werde ich nicht zulassen«, schrie eine Stimme aus dem Dunkel.
Die Alte blickte gereizt auf. Durch den peitschenden Regen schritt Jasper Cutgrass auf sie zu. In seiner tadellos gebügelten Uniform mit den blank polierten Knöpfen wirkte er sonderbar fehl am Platz.
»Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«, knurrte sie verächtlich. Sie hob die Glaskugel, um die volle Wut des Sturms zu entfesseln.
Jasper hob eine Hand. »Im Namen des Gesetzes fordere ich Sie auf, Ihr kriminelles Treiben sofort einzustellen und mir den gestohlenen Gegenstand auszuhändigen.«
Mrs Usage lachte ihm ins Gesicht. »Im Namen des Gesetzes! Sie haben hier überhaupt nichts zu melden. Kein Mensch in Wellow würde einen Finger rühren, um einem von der Küstenwache zu helfen, so sieht’s aus! Ich gehöre zur Gentry, und wir haben hier das –«
Jasper erfuhr nicht, welche Rolle die Alte in der Gesellschaft von Wellow einnehmen wollte, denn sie verdrehte die Augen, die Zunge quoll ihr aus dem Mund, und dann sank ihre wabbelige Leibesmasse lautlos in sich zusammen.
Hinter ihr tauchte Daniel Twogood auf, in der einen Hand die Gartenschaufel, mit der er zugeschlagen hatte, in der anderen die Sturmmaschine. Aus der Traum von einem ruhigen, friedlichen Leben in Wellow, dachte er grimmig.
Er hielt die Glaskugel ganz ruhig und prompt flaute der Sturm ab. Die heftigen Wellen legten sich, die Lady Olivia schlingerte nicht mehr so wild, sondern schaukelte nur noch. Die Wolken verzogen sich, Sterne zwinkerten hinab zu den geretteten Passagieren und Seeleuten, die ihr Glück kaum fassen konnten.
»Sie Schwachkopf«, schrie Mr Twogood. »Kapieren Sie jetzt, was Sie angerichtet haben?«
Jasper stand da wie ein begossener Pudel. »Die hätten die Maschine nicht stehlen dürfen«, wandte er ein.
»Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?« Daniel Twogood drehte sich um und schritt davon. Jasper hastete hinter ihm her. »Wollen Sie es Leuten wie den Usages überlassen, darüber zu entscheiden, was in der Welt passiert? Sie hätten das Ding nie zurückholen dürfen – und Sie wollten sogar noch mehr von diesen Höllenmaschinen bauen!«
Villainous kniete bei seiner Mutter im Gras, ihren Kopf in seinem Schoß, und tätschelte ihre Wangen, bis sie wieder zu sich kam. In seinem Gesicht war keine Spur mehr von Schlauheit und List zu entdecken, nur noch der ängstliche Ausdruck eines Kindes, das sich Anerkennung von seiner Mutter wünscht.
»Es wird alles gut, Mutter«, sagte er und half ihr auf. »Wir brauchen die Ladung nicht. Nicht um diesen Preis.«
Mrs Usage klopfte den Staub von ihrem Rock und sah ihn an, als hätte sie seine Anwesenheit eben erst bemerkt. Villainous zog instinktiv den Kopf ein.
Sie holte aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. »Und so einer will mein Sohn sein?«, schrie sie. »Wie konntest du den beiden die Maschine einfach überlassen? Das Ding ist unser Ein und Alles!«
Die Wucht des Schlags warf ihn um, aber er hatte schon Schlimmeres erlebt. In seinem Kopf hörte er immer noch die Schreie und das Flehen der Menschen auf dem Schiff. Er wusste jetzt, dass Reichtümer, die man Sterbenden geraubt hatte, ihn niemals froh machen würden.
Seine Mutter
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