Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
sich ducken musste, dann ließ er das Kielschwert ganz ab.
»Ree!«, rief Felicity und legte das Ruder um. Der Großbaum schwenkte auf die andere Seite des Boots.
Henry machte flink das Fockfall los und belegte es auf der anderen Seite, dann holte er das Schwert ein Stückchen auf, während Felicity sich darum kümmerte, die
Ehrliche Armut
wieder zum Gleiten zu bringen.
Sie warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Offenbar hatten die Blakes Schwierigkeiten mit ihrem Boot, das merklich an Fahrt verloren hatte.
»Sie sind zu nahe an der Klippe«, sagte Felicity. »Der Wind da ist ein bisschen zickig, so wie es aussieht.«
Martha runzelte verständnislos die Stirn.
»Das ist immer so direkt vor einer Steilküste«, erklärte Henry ihr. »Wenn der Wind von See her kommt, wird er von den Felsen nach oben abgelenkt. Dadurch entstehen ziemlich komische Luftströmungen: Mal gibt es alle möglichen Wirbel, mal weht nicht ein Lüftchen.«
Miranda und ihre Brüder bereuten ihre Entscheidung jetzt ohne Zweifel, dennoch folgten etliche andere Boote, die inzwischen aufgeholt hatten, ihrem Beispiel und änderten ebenfalls ihren Kurs.
»Diese miesen Betrüger!«, knurrte Henry.
Schimpfend und fluchend sahen die Blakes zu, wie die
Ehrliche Armut
flott dahinsegelte, während sie und die anderen Teams in ihrer Nähe größte Schwierigkeiten hatten, mit dem tückischen Wind zurechtzukommen. Felicity hatte den Eindruck, dass einige ziemlich verzweifelt waren. Mittlerweile holte der Rest des Felds schnell auf. Die Leute beobachteten verwundert, was sich da vor ihnen abspielte.
Plötzlich war von den Klippen her ein schreckliches Grollen zu hören. Alle Augen sahen hinauf. Möwen stoben in die Luft wie Löwenzahnsamen, als der Boden, auf dem sie geruht hatten, unter ihren Füßen wegbrach.
Felicity fiel die Kinnlade hinunter. Unter donnerndem Krachen löste sich ein riesiger Brocken aus dem Kreidefels der Klippe und rutschte abwärts dem Wasser zu. Die Zeit verrann quälend langsam und zugleich schockierend schnell.
Der Lärm war überwältigend. Er schlug mit solcher Wucht über Felicity zusammen, dass er für einen Moment jeden Gedanken auslöschte. Das Brüllen und Ächzen eines unvorstellbar gewaltigen Ungeheuers schallte übers Wasser. Es war, als wären selbst die Felsen fassungslos angesichts dessen, was da geschah.
Und endlich trafen die Gesteinsmassen mit ohrenbetäubendem Getöse auf dem Meer auf. Der ganze Ozean schien zu kochen, eine mächtige Flutwelle raste auf die Boote zu. Die
Ehrliche Armut
wurde mit einem heftigen Ruck vorwärtsgeschleudert, die Kinder klammerten sich fest, um nicht über Bord zu gehen.
Geröll und kleinere Felsbrocken hagelten vom Himmel. Einer zerschmetterte den Großmast einer Jolle und zerfetzte das Segel. Ein anderer schlug in einem Boot ein und riss ein Loch in den Rumpf.
Von überall her schallten Entsetzensschreie. Felicity blinzelte, als erwachte sie aus einer Ohnmacht. Ihren Augen bot sich ein Bild des Schreckens. Boote fuhren kreuz und quer durcheinander. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen, weil die Besatzungen in ihrer Panik die Kontrolle über ihre Fahrzeuge verloren hatten. Eine Seglerin war von einem Stein getroffen worden, Blut lief über ihr Gesicht. Sie wirkte vollkommen verstört. Ein Junge war ins Wasser gefallen.
Es war ein einziger Albtraum.
»Wir müssen ihnen helfen«, schrie Henry.
»Klar zur Wende!« Felicity legte das Ruder um. Henry kümmerte sich um das Focksegel, dann wechselte er die Seite. Martha saß wie betäubt da. Erst als Henry sie anstupste, setzte sie sich neben ihn. Ihr Gesicht war totenbleich.
»Wir müssen zuerst den Jungen aus dem Wasser ziehen«, sagte sie. Henry nickte.
Das Boot der Blakes, das endlich Fahrt aufgenommen hatte, kam ihnen entgegen.
»Werft hier Anker und wartet, bis wir wiederkommen«, rief Henry ihnen zu. »Ihr müsst die Leute an Bord nehmen, die wir bergen.«
Miranda warf ihm einen verächtlichen Blick zu und korrigierte den Kurs so, dass der Wind voll in die Segel blies. George und Oscar lehnten sich weit aus dem Boot, um die Trimmung zu verbessern. Es war nur allzu deutlich, dass sie nicht daran dachten, anzuhalten und sich an der Rettungsaktion zu beteiligen.
»Was soll das?«, schrie Henry.
»Das ist ein
Rennen,
du Blödmann«, sagte Miranda ungerührt.
»Das könnt ihr doch nicht machen!« Marthas Stimme überschlug sich. »Da sind Leute verletzt!«
»Wie kann man nur so naiv sein!« Miranda
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