Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
Augen an, stumm vor rasender Wut.
Miss Cameron schaute auf den Boden.
Mit versteinertem Gesicht nahm Felicity ihre Jacke und marschierte zur Tür. Sie warf der Bibliothekarin noch einen letzten zornigen Blick zu, dann ging sie.
Felicity stürmte ins Haus ihres Großvaters, ohne anzuklopfen. Im Geist schleuderte sie ihm bereits die bittersten Anklagen entgegen. Laut und böse hallten ihre Schritte auf den Steinplatten des Flurs. Sie ging geradewegs zu Rafes Arbeitszimmer.
Rafe sprang auf, um sie zu begrüßen. Auf seinem Schreibtisch lagen eine Menge Pläne und Bauzeichnungen für verschiedene Sicherungs- und Befestigungsarbeiten, die wegen der Erosion in und um Wellow durchgeführt werden mussten. Aber offenbar war er von dieser Beschäftigung abgelenkt worden.
»Gut, dass du kommst«, sagte er erfreut. »Ich muss dir dringend was zeigen. Ich habe heute euren Pokal hochgehoben, und da ist mir aufgefallen, dass die Fassung der Kristallschale sich irgendwie gelockert haben muss. Man kann das Glas ganz leicht rausnehmen. Da, schau mal.« Er wies auf den silbernen Standfuß und die gläserne Trinkschale, die nebeneinander lagen. »Und da habe ich entdeckt, dass auf der Innenseite des Metalls etwas eingraviert ist, das man normalerweise nicht sehen kann.«
Felicity beugte sich vor. Tatsächlich, da war eine Inschrift:
In aqua veritas.
»Im Wasser ist die Wahrheit. Richtig lautet das lateinische Sprichwort natürlich:
In vino veritas
– im
Wein
ist die Wahrheit. Ich nehme an, da hat sich mein Vater einen kleinen Scherz –«
Aber Felicity unterbrach ihn, sie konnte keine Sekunde länger warten. »Miss Cameron hat mir von der Geschichte erzählt, von meiner Geschichte«, sagte sie. Ihr Ton war eisig.
Rafe setzte sich hin. »Ach so«, sagte er.
Eine Weile war der Raum von bedrückender Stille erfüllt.
»Du hast wohl geglaubt, dass ich ohne deine Hilfe nie Freunde finden kann? Das denkst du über mich?«, fragte Felicity. Ihre Züge waren verzerrt vor Empörung und Kränkung.
Rafe schaute auf. »Ich hatte zufällig beobachtet, wie die Brüder Blake dich auf dem Weg zur Schule gepiesackt haben. Und deine Mitschülerinnen, die dabei waren, haben nur gelacht. Miss Cameron meinte –«
Felicity ließ ihn nicht ausreden. »Ich habe euch leidgetan?« Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt.
»Ich dachte, ich –«
»Du dachtest eben
nicht
, du denkst
nie
, jedenfalls nicht an andere Menschen«, sagte sie wütend.
»Aber es ist doch alles
gut
geworden. Du bist froh und glücklich, du gehst segeln, du hast Henry und Martha –«
»Ja, aber die hast du mir mit deiner Geschichte zugeschanzt, und darum kann ich nie sicher sein, ob sie mich
wirklich
gernhaben oder das alles nur …« Ihr blieb die Stimme weg vor Erbitterung.
»In der Geschichte ist davon die Rede, dass jedes Kind die Freunde findet, die es braucht, und die Liebe, die es
verdient
«, sagte Rafe mit fester Stimme. »Dein Glück ist dir also nicht in den Schoß gefallen oder gar aufgedrängt worden, sondern du musstest es dir verdienen. Die Urgeschichte ist auch dein Werk: Sie wird immer und immer wieder im Leben von Kindern wahr werden, weil du den Mut gehabt hast, sie zum ersten Mal in die Tat umzusetzen.«
Felicity schwieg. Sie blickte hinunter auf den cremefarbenen Teppich mit dem zarten braunen Blütenmuster. »Ihr hättet mich vorher fragen müssen, statt hinter meinem Rücken diese Geschichte auszuhecken.« Es klang schon deutlich weniger hitzig.
»Würdest du etwas rückgängig machen, wenn du die Wahl hättest?«, fragte Rafe.
Felicity dachte daran, wie ihr Leben früher gewesen war. Sie stellte sich vor, wie Miss Cameron sie gesehen haben musste: ein Mädchen, das von allen gemieden wurde, das praktisch seine gesamte Freizeit einsam und allein in der Stadtbücherei zubrachte. Schon beim Gedanken daran wurde ihr ganz elend. Sie atmete ganz langsam aus.
»Es tut mir wirklich leid, dass du es so erfahren hast, das kannst du mir glauben.« Rafe nahm einen Stechzirkel von der Schreibtischplatte und spielte verlegen damit herum. »Und es stimmt leider, was du gesagt hast: Ich bin oft gedankenlos.«
Felicity starrte ihn an. Bestimmt sah ihr Gesicht immer noch gekränkt und böse aus, aber ihre Wut war verschwunden.
Er seufzte. »Ich habe in meinem Leben viele Dinge getan, auf die ich nicht besonders stolz bin. Aber dass ich deine Geschichte gemacht habe, bereue ich nicht.«
»Ich muss los, sonst komme ich zu spät zum Abendessen«,
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