Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
um
Hilfe
gebeten, nicht um meine Abberufung«, sagte Miss Cameron.
Abednego zog den Umschlag aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. »Nummer eins hat natürlich damit gerechnet, dass Sie nicht so ohne Weiteres einwilligen würden.«
Miss Cameron öffnete das Kuvert und fing zu lesen an. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie strich ihre Frisur glatt. »Die Kollegen überprüfen die Quellen?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Abednego.
»Aha.« Miss Cameron stand auf. »Hilfst du mir beim Packen, Felicity?«
Felicity war ganz verwirrt. Sie kannte Miss Cameron, seit sie ein kleines Mädchen war. Unvorstellbar, dass die Bibliothekarin plötzlich nicht mehr hier sein sollte.
Miss Cameron sah sie mit schräg gelegtem Kopf forschend an. Felicity stand hastig auf und folgte ihr mit wild pochendem Herzen.
Die Bibliothekarin ging mit klackenden Absätzen durch den Saal und betrat dann einen Lagerraum. In einer Ecke öffnete sie eine Tür, die Felicity immer für eine Schranktür gehalten hatte. Jetzt sah sie, dass dahinter eine Wendeltreppe nach oben führte. Felicity starrte sie verunsichert an. Sie hatte sich nie gefragt,
wo
in dem Gebäude Miss Camerons Wohnung lag.
Sie stiegen hinauf in eine kleine Dachkammer, einfach eingerichtet, aber sehr sauber und ordentlich. Eine Kommode, ein Kleiderschrank, ein Stuhl und ein eisernes Bett, die Bettwäsche blütenweiß und glatt.
Miss Cameron setzte sich aufs Bett, Felicity nahm neben ihr Platz.
Es war schummrig in dem Raum, das Gesicht der Bibliothekarin lag im Schatten. »Wellow ist mir ans Herz gewachsen.« Sie ließ den Kopf hängen. »Ich werde meine Strandspaziergänge vermissen.«
Felicity atmete tief durch, um sich etwas zu beruhigen. »Warum müssen Sie weg von hier?«, fragte sie.
Miss Cameron studierte eine gestickte Blume auf ihrem Kopfkissenbezug. »Die Vereinigung der Bibliothekare, der ich angehöre …«
Felicity hielt den Atem an.
»Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Urgeschichten zu schützen und zu bewahren«, fuhr Miss Cameron fort. »Es ist wichtig und notwendig, dass wir hier die Schrift mit frischer Tinte überschreiben, aber diese Arbeit zielt immer nur auf die Symptome, nicht auf die Ursache des Übels. Meine Kollegen haben mich abberufen, jede helfende Hand wird gebraucht. Erst wenn wir … wenn es gelingt, was wir uns vorgenommen haben, sind die Geschichten vor dem Sand sicher.«
»Kommen Sie wieder?«, fragte Felicity.
»Natürlich«, sagte Miss Cameron beruhigend.
»Miss Cameron, ich …«, stammelte Felicity. Wie hatte sie sich nur so verhalten können?
»Ich bitte euch, die Schreibarbeit fortzuführen«, sagte die Bibliothekarin leise. »Mr Cutgrass wird es alleine nicht schaffen, zumal er hier neu ist und sich noch nicht richtig auskennt. Ich hoffe, ihr werdet ihm helfen, sich schnell einzugewöhnen.«
»Kann nicht
er
an Ihrer Stelle gehen?«
Miss Cameron sah sie streng an.
»Wir werden natürlich unser Bestes tun«, versicherte Felicity hastig. »Sie können sich auf uns verlassen.«
»Mr Cutgrass tut seine Pflicht und ich tue die meine«, sagte Miss Cameron sanft.
»Es tut mir so leid«,
platzte Felicity endlich heraus. Es war schrecklich. Sie würde die Bibliothekarin bitter vermissen.
»Ist gut«, sagte Miss Cameron. »Du hast keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen.«
Es war offensichtlich, dass sie keine Entschuldigung hören wollte. Felicity biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten.
Unten in der Bibliothek sahen Martha und Jeb zu, wie Abednego und Jasper Cutgrass sich ins Lesezimmer zurückzogen.
»Ein sonderbares Gespann«, bemerkte sie.
»Ja, aber sie verbindet eine gemeinsame Sache«, erwiderte Jeb.
Abednego schloss die Tür des Lesezimmers. »Werden Sie zurechtkommen?«, fragte er. Er hielt ein winziges Holzpüppchen in der Hand. Seine Finger strichen über die verblichenen Stofffetzen, mit denen es bekleidet war.
»Für Miss Cameron ist es schlimmer«, sagte Cutgrass. »Das hier ist ihr Lebenswerk.«
Abednego fasste ihn am Arm. »Sie lernen immer besser, sich in andere Menschen einzufühlen.«
»Die
Sturmwolke
wird mir fehlen.« Jasper seufzte.
»Solange ich Kapitän bin, ist immer eine Koje für Sie frei.«
Jasper drückte ihm die Hand. »Das ist gut. Mehr brauche ich nicht.«
»Es wird nicht lange dauern: Dieses Jahr noch, dann ist es vorbei – so oder so.«
»Ja, das ist es, was mir Sorgen macht«, sagte Jasper.
In kurzer Zeit hatte Miss Cameron mit Felicitys Hilfe ihre
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