Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
ihn.
Achtzehntes Kapitel
I n dieser Nacht schimmerten die dunklen Straßen von Wellow unter einem samtigen Himmel, der über den Klippen und Häusern der Stadt schwebte wie ein weit geöffnetes Maul, bereit, die Welt zu verschlingen.
In dem stillen Zimmer im ersten Stock des Herrenhauses schlief Felicity tief und fest. Durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen stahl sich etwas silbernes Mondlicht.
Sie trieb in ihrem Traum nicht hoch über der Welt dahin wie sonst, sondern befand sich mittendrin, sah und fühlte alles, was darin vorging. Körperlos schwebte sie aus dem Zimmer, durch das Holz der geschlossenen Tür und die große Treppe hinunter.
Es war still, nur hie und da war fast unhörbar das Ticken oder Knacken des schlafenden Hauses zu vernehmen. Die Holzvertäfelungen erzählten ihr flüsternd von ihrem früheren Leben – vom hoffnungsvoll keimenden Samen bis zum mächtigen Baum. Die Steinplatten, über die sie schritt, redeten von der Zeit, als sie in der Tiefe längst erloschener Vulkane geruht hatten.
Der Boden der Eingangshalle war mit Sand bedeckt, der im Mondlicht schimmerte und in gespenstischen Wellen hin und her wogte. Felicity glitt zur Eingangstür und öffnete sie. Die geschnitzten Engel beobachteten sie düster schweigend.
Vor ihr stand Povl Usage. Seine Kleidung war durchnässt und schmutzig. Zu seinen Füßen lagen zwei der Wachposten. Über sie kroch in geschmeidig fließender Bewegung feiner weißer Sand.
Felicity zuckte nicht mit der Wimper: Sie blieb ganz gelassen – das alles war nur ein Traum. Sie trat zur Seite, um Povl Usage durchzulassen. Er trat ein, nahm beim Vorbeigehen ihre Hand und sie überließ sie ihm ohne Widerstand. Der Sand folgte ihnen. Er umfloss ihre Füße, liebkoste Povl Usages gespenstisches Gesicht und seine lila Lippen.
Felicity seufzte im Schlaf. Er hatte die Erdhexe wirklich geliebt, kein Zweifel. Aus enttäuschter Liebe war er zu dem geworden, der er nun war.
Er führte Felicity in Rafes Arbeitszimmer. Rafe lag bewusstlos in sich zusammengesunken auf dem Boden, aber seine Enkelin machte sich keine Sorgen um ihn. Er war nicht in Gefahr, der Sand ließ ihn in Frieden, vorerst zumindest.
Povl beugte sich über Rafe, fasste in die Innentasche seines Jacketts und zog einen Schlüssel hervor.
Felicity schwebte zum Kamin und starrte teilnahmslos in den Spiegel mit dem reich verzierten goldenen Rahmen. Das Licht des zunehmenden Mondes erhellte ihr Gesicht, über das der bleiche weiße Sand kroch. Er schlüpfte in ihre Nasenlöcher, in ihre Augen, in ihre Ohren, überall sah sie die feinen Körnchen wirbeln.
Sie streckte eine Hand aus und sah sie umhüllt von einem feinen Nebel aus Sand. Auch unter der Haut sah sie Sandkörnchen wandern. Sie spürte sie überall in ihrem Körper. Aber sie fühlte sich sicher, wie von einem schützenden Kokon umgeben.
Povl Usage tauchte hinter ihr auf. »Du bist eins mit meiner Herrin«, sagte er.
Wie zur Bestätigung wirbelte der Sand in ihrem Kopf, schwirrte zwischen ihren Augen hin und her.
Povl Usage griff nach einem grünen Wandteppich und zog ihn beiseite. Ein Safe wurde sichtbar. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, schwere Stahlbolzen klickten, Povl Usage öffnete die massive Tür. Da lag der Blutstein. Er nahm ihn, ohne auch nur zusammenzuzucken. »Du kommst mit«, sagte er zu Felicity.
Sie folgte ihm gehorsam durch den Vordereingang ins Freie. Das Pflaster unter Felicitys Füßen fühlte sich kühl an, das Gras im Garten war gefroren.
Bei einem Werkzeugschuppen blieb Povl Usage stehen. Er ging hinein und kam mit einer Kreuzhacke wieder heraus.
Sie verließen das Gelände des Herrenhauses und glitten durch die Straßen der Stadt, der große, dünne Mann, der wie ein Landstreicher angezogen war, und das junge Mädchen, dessen dunkle Haare auf das weiße Nachthemd fielen, beide stumm und ernst.
Sie durchquerten die Oberstadt und bogen dann auf einen Kiesweg ab, der Felicity so vertraut war, dass sie ihn mit verbundenen Augen hätte gehen können: Er führte durch den Stadtpark zu ihrer Schule. Sie durchquerten den Park, und vor ihnen ragte stumm das neugotische Gebäude der Priory Bay mit seinen Spitztürmchen auf, die feindselig zackige Schatten warfen.
Povl Usage führte sie durch das schmiedeeiserne Tor zu dem Anbau, in dem der Chemiesaal untergebracht war. Er schlug die Scheibe der Glastür ein. Die beiden betraten den Raum.
Povl Usage hob die Kreuzhacke. Die Welt hielt den Atem an. Die Spitze des
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