Felicity Gallant und das steinerne Herz (German Edition)
stammelte sie.
Die Hüterin der Erde wandte sich ihr zu, ihre grässlichen Augen voller Hass. Felicity wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Ist sie das?«, fragte die Erdhexe ihren Diener.
»Ja, sie hat es gestohlen«, zischte Povl Usage.
Sie ging langsam auf Felicity zu, die wie versteinert dastand. Das dumpfe Geräusch, das den Boden erzittern ließ, dauerte an. Die Erdhexe blieb stehen, packte Felicity mit beiden Händen und zog sie zu sich heran.
Einen Lidschlag lang schien die Welt stillzustehen. All ihrem Schrecken zum Trotz erfüllte der Anblick der Hüterin Felicity doch zugleich mit Bewunderung: Staunend sah sie ihre makellose Haut, die elegant geschwungenen Brauen, die feinen weißen Wimpern.
Die Erdhexe griff nach dem Glücksbringer, den Felicity um den Hals trug. »Woher hast du das?«, fragte sie.
Felicity stockte der Atem. Ihr Herz klopfte wild, ihr Mund war ganz ausgetrocknet. »Ein Freund hat es für mich geschnitzt.«
Die Erdhexe verzog das Gesicht. »Nicht dieses läppische Holzboot. Ich rede von dem Kettchen.« Sie strich mit der Fingerspitze daran entlang.
»Du hast meinem Diener meine Halskette gestohlen«, schrie die Erdhexe so laut, dass die Wände bebten. »Das Kostbarste, was ich besitze. Die Kette, die ich meinem Geliebten geschenkt hatte. Dafür wirst du teuer bezahlen.«
»Aber ich –« Felicity fasste an ihren Hals. Das Bild der Hüterin, so wie sie früher ausgesehen haben musste, blitzte in ihrem Geist auf, das Bild einer Schönheit mit goldenen Locken. Da wurde ihr plötzlich alles klar: Die Kette, an dem das von Jeb geschnitzte kleine Boot hing, war aus dem Haar der Erdhexe geflochten.
Povl Usage lächelte tückisch. »Sie muss sterben, Herrin«, sagte er.
Die Erdhexe achtete nicht auf ihn. »Seit einiger Zeit spüre ich, dass du es trägst. Povl hat mir erzählt, dass du es ihm gestohlen hast.«
Also hat er tatsächlich irgendwie mit ihr geredet, dachte Felicity. Sie hatte scheußliches Kopfweh.
»Seitdem hasse ich dich aus ganzer Seele«, fuhr die Erdhexe fort.
Felicity warf Povl Usage einen Blick zu. Er grinste befriedigt.
»Du kommst mit uns«, sagte die Erdhexe.
Aus dem Nichts rollte eine Lawine aus Erde und Geröll durch den unterirdischen Gang auf sie zu wie eine Riesenschlange. Felicity schrie auf und suchte verzweifelt nach Halt, aber es half nichts: Die Lawine riss sie mit.
Povl Usage jauchzte. »Wir werden die Welt bestrafen. Wir sind jetzt die Herren der Welt«, schrie er.
Von der Schönheit der Erdhexe war nun nichts mehr zu sehen. Ihr weißes Gesicht war verzerrt in einem Ausdruck grimmiger Rachsucht.
Alle drei wurden von der Lawine dahingetragen. Felicity rang nach Luft – um sie herum nichts als Erde, nachtschwarze Dunkelheit und tosender Lärm. Sie fühlte sich wie lebendig begraben unter Erdmassen, die sie zu zermalmen und zu ersticken drohten. Povl Usages boshaftes Gelächter hallte immer noch in ihrem Kopf nach.
Über ihnen in Wellow bebten die Straßen immer heftiger, Gebäude wackelten, in den Wohnungen fiel das Geschirr aus den Schränken, Stühle bewegten sich ratternd durch Räume, Bodendielen bogen sich und schnellten in die Höhe. Die Luft war erfüllt von beißendem Staub. Ein schreckliches, tiefes Grollen ließ die ganze Stadt erzittern. Überall gingen die Lichter an, aus den Häusern schallten Entsetzensschreie und schrilles Kreischen.
Und dann plötzlich war es vorbei.
Neunzehntes Kapitel
S chließlich spie die Lawine Felicity aus. Halb begraben unter Sand und Geröll, rang sie hustend und keuchend nach Atem.
Um sie herum war es dunkel. Offenbar befand sie sich in einem unterirdischen Raum, einer Höhle vielleicht. Ihre Hand ertastete eine Wand. Sie schien aus Lehm zu sein. Es roch nicht so modrig wie in dem Gang, in dem sie zuerst gewesen war, aber das machte die Sache kaum besser: Felicity war in einem finsteren Loch gelandet, aus dem sie nicht herauskonnte und in dem niemand sie finden würde.
Ein Zündholz flammte auf. Im Schein der Flamme sah sie Povl Usage, der eine Fackel an der Wand anzündete. Hinter ihm war eine schwere, eisenbeschlagene Tür.
Auch die Erdhexe war da. Ihr Gesicht drückte düstere Siegesgewissheit aus.
Felicity kroch zu ihr und fasste den Saum ihres eleganten weißen Gewands. »Bitte, tun Sie es nicht«, flehte sie. »Wenn Sie alle Geschichten, die glücklich enden, zerstören, wird die Welt in Chaos versinken.«
Von einem Moment zum nächsten verwandelte sich das Engelsgesicht der
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