Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12
sein wissendes Lächeln. »Alles wird bestimmt einen Sinn
ergeben, wenn wir Junior finden.«
»Nur wie?« fragte ich resigniert. Ein bißchen schämte ich
mich dafür, daß ich nicht gleich mit der Wahrheit herausgerückt war. Ich kam
mir wie ein kleiner Junge vor, der sich nach dem Abschluß der Windelphase noch
in die Hose gemacht hat. Allerdings war es auch ein Ding der Unmöglichkeit,
sich in diesem Verwirrspiel zwischen Erinnerung und Einbildung zurechtzufinden.
Eine düstere Wolke legte sich auf meinen Geist und ließ die graue Vorzeit noch
etwas grauer erscheinen. »Ich würde alles dafür tun, um den Kleinen wieder
zurückzubekommen!«
»Wirklich alles?« Das Lächeln verschwand so gänzlich aus
Metathrons Gesicht, als hätte er sich eine Eisenmaske aufgesetzt. »Bist du auch
dafür bereit, der Wahrheit schonungslos ins Gesicht zu sehen? Es kann
gefährlich werden.«
»Ja«, sagte ich. »Dafür würde ich sogar durch die Hölle
gehen!«
»Das ist das gleiche«, entgegnete der Abessinier. »Gehen
wir noch 'ne Runde Eis schlecken!«
Während wir die vom Puderzucker-Design heimgesuchten
Gärten allmählich hinter uns ließen, kam es mir so vor, als sei der mit solcher
Beharrlichkeit wütende Schneesturm gar kein Naturphänomen, sondern eine Art
Symphonie oder besser gesagt, der Soundtrack für meinen chaotischen
Geisteszustand. Die Gründerzeithäuser, hinter deren erleuchteten Fenstern
chronisch das Glück zu wohnen schien, verschwanden aus unserem Blickwinkel und
wichen einer immer ländlicher werdenden Landschaft. Romantisch verschneite
Felder, hier und dort vereinzelte Baumgruppen und ein einsames Gehöft mit
rauchendem Schornstein lagen in weiter Ferne. Unsere Beine sanken bisweilen
fast bis zum Bauch in den Schnee, und oft mußten wir eine kleine Pause
einlegen, um wieder zu Atem zu kommen. Wir waren ein Treck der Erschöpften,
dennoch mit klarem Ziel, das jedoch allein Metathron zu kennen schien. Nach
einer kleinen Wanderung durch einen völlig lautlosen Miniaturwald standen wir
endlich vor der Kulisse, die ich insgeheim schon herbeigesehnt hatte.
Wir standen am Ufer des zugefrorenen Sees und ließen
unsere Blicke durch den Schneeflockenvorhang zur Insel schweifen. Nun stutzte
ich doch, jedoch nicht, weil Dr. Alzheimer auch bei mir langsam an die
Hirnschale klopfte und ich dort drüben immer noch die gute alte Anstalt
erwartet hätte. Nein, die war ja damals mit einem großen Puff! in die Luft
geflogen. Was mich erstaunte, war das neue Gebäude auf dem Eiland. Dort stand
ein kolossales Hochhaus, das sich wohl einer jener postmodernen Architekten
ausgedacht hatte, der während des Studiums beim
Wir-ziehen-einen-geraden-Strich-Seminar gefehlt hatte. Der rechteckige
Glaskasten verbog sich auf halber Höhe um neunzig Grad, so daß einem schon bei
der Vorstellung schwindelig wurde, sich darin aufzuhalten. Auf dem Dach glühte
eine riesige Leuchttafel mit der korallenroten Inschrift MORGENROT. Die
Buchstaben mußten mehr als mannshoch sein. Dieses Bauwerk eine Anstalt zu
nennen und dann auch noch mit dem Zusatz »psychiatrische« zu versehen war mehr
als gewagt. So luxuriös waren die Irrenhäuser nicht einmal heutzutage. Das
Gebäude mußte einem anderen Zweck dienen, wiewohl es da eine Verbindung
zwischen dem Alten und dem Neuen gab. Das spürte ich.
»Und da drin befindet sich Junior?« Ich wandte mich an
Metathron. Wir alle sahen inzwischen so aus, als hätte uns ein irrwitziger Koch
im Mehl gerollt. Von unserer eigentlichen Fellfarbe war fast nichts mehr zu
sehen, und unser Atem dampfte in der eisigen Luft, als wären wir Lokomotiven en
miniature. Um uns herum befand sich nur der ebenfalls lückenlos verschneite
Wald, auf dem eine gespenstische Stille lastete. Seltsamerweise wirkte gerade
der verkrüppelte Blaubart am fittesten von uns allen, ein harter Knochen von
der Fremdenlegion, der am Ende der Schlacht erst so richtig zu Hochform
aufläuft.
»Das liegt in deiner Pfote, Francis«, erwiderte der
Sprecher der magischen fünf. Seine von Schneeflocken besetzten Schnurrhaare
schwangen majestätisch im Wind.
»Noch eine Frage«, sagte ich. »Sind wir uns früher schon
einmal begegnet?«
»Das kann durchaus sein. Vielleicht nicht in dieser
Gestalt. Aber Begegnungen haben es so an sich, daß sie vielgestaltig sind.«
Ich nickte, dann wandte ich mich an meinen Partner. »Komm,
Blaubart, wir schnappen uns den Kleinen und bringen ihn heim!«
Wir staksten den kleinen Abhang zum See hinunter
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