Felidae
hielt dieser seinerseits irgendwelche Federviecher gepackt und leistete so dem Jüngling Unterstützung. Ich wu ß te, da ß die alten Ägypter uns zunächst wie Hunde bei der Jagd und dann erst als Bekämpfer von schädlichen Nagern in Getreideanbaugebieten eingesetzt hatten. Jene ehrwürdigen Artgenossen aber waren alles andere gewesen als solche Totaldomestizierten wie wir. Sie waren direkte Abkömmlinge der Ur-Felidae gewesen. Und um einen solchen Nachfahren handelte es sich bei dem Exemplar auf dem Grabgemälde zweifelsfrei. Das Gespenstische an der ganzen Sache war jedoch, da ß dieser Urahn exakt so aussah wie die Artgenossin, mit der ich mich vorletzte Woche gepaart hatte. Das gleiche sandfarbene Fell, das auf der Bauchseite ins helle Beige überging; die gleiche gedrungene Körperform; die gleichen wie Juwelen glühenden Augen ...
Dann geschah das Wunder, und ich hatte eine Erleuchtung! Es war gerade so, als würde in meinem Kopf eine gigantische Mauer zusammenbrechen und das grelle Licht von tausend Sonnen hereinfluten. Plötzlich wu ß te ich es:
Wir wurden unmerklich rückgezüchtet! Zu unseren Ursprüngen, zu den frühen Formen der Neuzeit-Felis, vielleicht noch weiter zurück, zu der stolzen Ur-Felidae, die keine Ketten der Domestikation gekannt hatte, die als furchterregendes Raubtier frei und ungebunden durch die Welt gezogen war und sich, wo sie ging und stand, Respekt verschafft hatte!
Ich mu ß te der Sache unbedingt auf den Grund gehen. Blitzartig fuhr ich herum und suchte in den Bücherregalen fieberhaft nach Gustavs umfangreicher Lexikonsammlung. Dann endlich entdeckte ich den Band mit dem Buchstaben V, welcher ganz oben im Regal stand. Ich nahm auf dem Schreibtisch etwas Anlauf, scho ß in die Höhe, kriegte das Buch mit den Vorderpfoten zu fassen, ri ß es vom Regal herunter und stürzte dann mit ihm gemeinsam auf den Fußboden. Gustav kommentierte das Gepolter mit undefinierbaren Brabbelgeräuschen, nahm aber danach sein gemütliches Schnarchen wieder auf. Wie von Sinnen blätterte ich die Seiten mit der Geschwindigkeit einer Banknotenregistriermaschine, bis ich endlich das gesuchte Stichwort fand: Die Vererbungslehre.
Bereits nach der Lektüre des ersten Satzes zitterte mein Körper vor fiebriger Erregung. Zum einen ärgerte ich mich maßlos über meine eigene Dummheit, weil ich diesen wichtigen Punkt bisher sträflich vernachlässigt hatte, und zum anderen wurde ich von eisigem Entsetzen gepackt, weil ich den Mörder und das Mordmotiv nun endlich zu kennen glaubte.
Zaghaft richtete ich den Blick wieder ins Lexikon.
»Die Gesetzmäßigkeit der Vererbung wurde zuerst von dem Augustinermönch Gregor Johann Mendel (1822-1884) entdeckt. Dem autodidaktischen Naturwissenschaftler sprang aus seinen Pflanzenzüchtungen ein Problem entgegen, das ihn fesselte und das er so scharf sah und so methodisch anfa ß te wie niemand vor ihm: Wie werden erbliche Eigenschaften übertragen? Den früheren Kreuzungsversuchen fehlte die experimentelle Exaktheit, die planmäßige Verfolgung durch Generationen und die logische Durchdringung. Gro ß e Überraschung bereiteten immer wieder die Vielförmigkeit der Bastardnachkommen und die ›Rückschläge‹ in späteren Generationen, die einen Bastard der väterlichen und der mütterlichen Stammform mehr oder weniger ähnlich machten. Vom Jahre 1856 an hat Mendel seine Versuche an der Gartenerbse planmäßig durchgeführt und dann die siebenundvierzig Seiten umfassende Arbeit Versuche über Pflanzenhybriden veröffentlicht ...«
Gregor Johann Mendel, der Priester aus dem Wandgemälde, der Riese aus meinem Alptraum. Nun, da ich die Zusammenhänge allmählich zu begreifen begann, schossen mir alle verräterischen Details der Geschichte wie prägnante Ausschnitte aus einem Film durch den Kopf. Doch sie waren nur im Rückblick verräterisch, denn ich war ja nicht in der Lage gewesen, diese verschlüsselten Botschaften zu kapieren.
Und je mehr Filmschnipsel vor meinem geistigen Auge auftauchten, desto deutlicher formten sie sich zu einem scharlachroten, gewundenen Pfeil der Logik, dessen glühende Spitze geradewegs auf den Mörder zeigte ...
- Gleich bei Sascha, dem ersten von mir entdeckten Opfer, war mir aufgefallen, da ß er sich zum Zeitpunkt seiner Ermordung auf dem Gipfel der Rolligkeit befunden hatte. Als ich die gleiche Beobachtung auch bei Deep Purples Leiche gemacht hatte, war die Schlu ß folgerung entstanden, jemand habe die Getöteten daran hindern
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