Felidae
Mühe gegeben, sie möglichst echt zu gestalten.
Da das Guckloch, das ich in den Schnee gescharrt hatte, meine Sicht ziemlich begrenzte, ging ich daran, es zu erweitern. Dann machte ich mich über die anderen Fenster her und befreite auch sie portionsweise von dem Schnee. So füllte sich das Kabuff nach und nach mit der spärlichen Helligkeit des grimmigen Weihnachtshimmels und rückte in Raten mit seinen Geheimnissen heraus. Es dauerte unendlich lange, bis ich in diesem Wirrwarr jedes Detail mit den Augen abgetastet hatte. Dabei wuchs meine Frustration ins Unerträgliche, weil nichts nach dem aussehen wollte, wonach ich wie von Sinnen fahndete.
Dann, als ich schon ans Aufgeben dachte, sprang es mir plötzlich schockartig ins Auge ...
Er machte in der Tat den Eindruck, als sei er noch am Leben. Zwischen zwei Artgenossen aus Porzellan eingekeilt, die ebenfalls schneeweiß waren wie er, und von einem Spalier langstieliger Gläser gegen neugierige Blicke abgeschirmt, saß Joker auf dem oberen Brett eines Regals in der finstersten Ecke des Lagers. Nur die Spitze des zotteligen Schwanzes lugte über die Kante des Regalbrettes hervor und konnte einen sehr aufmerksamen Beobachter, der unten stand, stutzig werden lassen. Durch einen Ri ß in der Fensterfolie rieselten malerisch ein paar dünne Schneeflocken auf Jokers Haupt. Er saß wie die Sphinx auf vier Pfoten, hatte den Kopf nur leicht vornüber geneigt und schien auf den ersten Blick zu dösen. In Wirklichkeit jedoch hatte er sich schon längst in einen Eisblock verwandelt, weil in diesem Raum ungefähr dieselbe Temperatur wie draußen herrschte. Dies war vermutlich auch der Grund gewesen, weshalb weder sein Besitzer noch Blaubart Verwesungsgeruch wahrnehmen konnten. Erst wenn wieder Wärme einsetzen und der im wahrsten Sinne des Wortes kalte Sack zu »schwitzen« beginnen würde, würde die Wahrheit ans Tageslicht kommen.
Der eisige Fund überraschte mich kaum, denn mein unfehlbarer Instinkt hatte mich ja schon etliche Tage vorher wissen lassen, da ß Vater Joker seit langer Zeit nicht mehr unter uns Fressenden und Verdauenden weilte. Was mich aber in Erstaunen versetzte, war der Umstand, wie leicht es der Mörder diesmal gehabt hatte. Im Gegensatz zu den anderen Opfern nämlich war Jokers Nacken nicht zerfetzt worden. Gleich dem Monogramm des Grafen Dracula waren lediglich Risse von Reißzähnen im Nackenpelz zu erkennen, aus denen ein kümmerlich dünnes Blutrinnsal geflossen und dann gefroren war. Die heil gebliebenen Porzellanfiguren und Gläser ringsum legten ebenfalls Zeugnis davon ab, da ß Joker sich bei seiner Ermordung nicht gewehrt hatte. Denn schon ein zaghafter Widerstand hätte den ganzen Kram umkippen und vom Regal hinunterpurzeln lassen müssen. Ja, wahrscheinlich hatten sich Mörder und Opfer an diesen abgelegenen Ort zurückgezogen, um die Sache in aller Heimlichkeit hinter sich zu bringen.
Es hatte sich um eine Hinrichtung gehandelt, und Joker war voll und ganz damit einverstanden gewesen. Der Grund dafür lag auf der Hand. Der Zeremonienmeister hatte erfahren, da ß man seiner Komplizenschaft mit dem Mörder auf die Spur gekommen war. Im Verlauf eines Verhörs durch jemanden, der Verdacht geschöpft hatte, wäre er irgendwann ganz sicher zusammengebrochen und hätte den Mörder preisgegeben, auch dessen war er sich bestimmt bewu ß t gewesen. Dieses Risiko konnte der Mörder natürlich auf keinen Fall eingehen, und deshalb drängte er Joker zu dem unfa ß baren, aber notwendigen Schritt. Und Joker gehorchte, ließ sich ohne Widerspruch von der Bestie umbringen. Doch was stand so unglaublich Wichtiges auf dem Spiel, da ß Joker sich dafür so bereitwillig opferte? War das Geheimnis wichtiger als das eigene Leben?
Claudandus! ... Er hatte überlebt, um anderen den Tod zu bringen!
Die Auflösung eines Rätsels verschafft Normalsterblichen in der Regel Stolz und ein Gefühl der Befriedigung. Kranke Hirne wie meines jedoch, das hatte ich bereits vor der Entschlüsselung des Claudandus-Falles gewu ß t, gehorchen anderen Gesetzmäßigkeiten. Das Rätselraten an sich ist das eigentliche Vergnügen, die Lösung dagegen ein alberner Preis. Einfach zu schön ist es, wenn in dem Geheimnis ein weiteres Geheimnis steckt und in diesem wieder ein neues und immer so fort. Rätselrater sind eine Spezies für sich, und ihr sehnsüchtigster Wunsch besteht darin, da ß eines Tages jemand daher kommt und ihnen eine Frage stellt, die sie nicht beantworten
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