Felipolis - Ein Felidae-Roman
erreichte, die Unterschenkel »abgeschnitten« wurden. Jetzt war
der Kerl nur noch oberhalb der Waden zu sehen. Freilich hatte diese minimale Ausschnittsverlagerung nichts weiter zu bedeuten, schon gar nicht musste dahinter ein manipulativer Regisseur stecken, der dem Zuschauer an entscheidender Stelle hatte etwas verbergen wollen. War mir doch bereits unten im Entree aufgefallen, dass die Überwachungskameras mit Bewegungssensoren ausgestattet waren, deren Fokussierungsprogramm sich nach unergründlichen Gesetzen richtete. Wahrscheinlich reichte schon eine unbedeutende Geste des Beobachtungsobjekts aus, um einen Zoom oder Schwenk auszulösen.
Wie dem auch sei, gleich darauf kam es zur Katastrophe. Der Mann ging einige Stufen abwärts, er war nur noch bis zur Körpermitte zu sehen, dann schien er schlagartig das Gleichgewicht zu verlieren. Er schwankte mächtig hin und her, zappelte, riss dramatisch die Arme empor, als sei er tatsächlich gestolpert, und stürzte in Richtung des großen Fensters mit den Glasmalereien. Wie er schließlich mit seinem ganzen Körpergewicht das Glas durchbrach, konnte man aus dieser Perspektive kaum erkennen, man sah lediglich, wie die obere Hälfte des Fensters in tausend Scherben zerbarst, als er dagegenschlug.
Die zweite Kamera oberhalb des Fensters, die das Opfer frontal erfasst hatte und die Nummer dreiunddreißig trug, würde sicher mehr Aufschluss bringen. Ich tippte auf das entsprechende Feld und spulte auch diese Aufnahme um zwanzig Minuten zurück. Wie vorhin war zunächst nichts weiter zu sehen als die leere, auf dem Podest endende Treppe und der Beginn des Flurs in der oberen Bildhälfte. Nach einer gewissen Zeit tauchte der Mann auf, und er machte
wirklich den Eindruck, als würde er jeden Augenblick vor Wut platzen. Nach seinem zornigen Gesichtsausdruck, den im Sekundenrhythmus ausgestoßenen Flüchen und der aggressiven Fuchtelei mit den Armen zu urteilen, hatte er offenkundig gerade ein sehr unbefriedigendes Gespräch hinter sich. Es hätte mich sehr gewundert, wenn dieses Gespräch nicht mit meinem eiskalten Glatzkopf geführt worden wäre. Er näherte sich der Treppe und …
Zum zweiten Mal kam mir fast ein »Was ist denn das?« über die Lefzen. Wieder schwenkte die Kamera geringfügig nach oben! Und wieder wurden die Unterschenkel des Mannes »abgeschnitten«. Jetzt wurde es zur Preisfrage, ob es sich hier wirklich nur um eine Macke der Bewegungssensoren an den Kameras handelte, ausgelöst durch eine zufällige Körperregung des Objekts. Jedenfalls sah man den Übelgelaunten, der nun seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, erneut nur mehr von den Waden aufwärts. Danach das gewohnte Bild, diesmal allerdings mit freier Sicht auf die Mimik. Er wurde unvermittelt in seinem verärgerten Gehabe unterbrochen, blickte kurz nach unten und erkannte dort anscheinend etwas Verstörendes. Doch bevor er aus dem Staunen herauskommen konnte, stolperte er auch schon, verlor das Gleichgewicht und fiel mit in der Luft rudernden Armen und einen Verzweiflungsschrei ausstoßend in Richtung des Fensters, also quasi der Kamera entgegen.
Es war ein Ding der Unmöglichkeit, sich auf das Gesehene einen Reim zu machen. Tatsächlich schien es sich um einen Unfall zu handeln, obwohl ich schwer glauben konnte, dass in diesem Hause gleich zwei Personen aus reiner Dusseligkeit die Treppe hinuntergestolpert sein sollten. Aber die
Aufnahmen belegten, dass zumindest der Tote heute nicht von einem Bösewicht geschubst worden war. Allerdings ließen die mysteriösen Kameraschwenks viel Raum für Spekulationen.
Spekulieren war eine schöne Sache, um nicht zu sagen, mein Zweitberuf. Den auszuüben ich mich allerdings außerstande sah, als ich sich dem Büro nähernde Schritte vernahm. So wie es aussah, kehrte Glatzi von seinem Toilettengang zurück. Sicher hätte ich schnell auf den Flur spurten und das Gebäude auf Nimmerwiedersehen verlassen können. Aber eine innere Stimme warnte mich, dass ich in diesem Fall dem Kerl direkt in die Arme rennen würde. Der Takt meines Herzens verdoppelte sich jäh, und meine Augen rotierten und tasteten jeden Winkel des Raumes nach einem Versteck ab. Kurz überlegte ich, ob ich mich hinter dem Schreibtisch verschanzen sollte, verwarf die Idee aber wieder, da ich mir eine Salzsäule-Pose über Stunden hinweg nicht zutraute. Die Schritte wurden immer lauter, dazu hämmerte mein Herz im Gleichtakt. Worauf hatte ich mich bloß eingelassen? Blaubart war schuld! Jawohl,
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