Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
den Eingang ging, der eigentlich aus zwei Türen bestand und nur mittels eines Summers von innen zu öffnen war, musste man das, was von der Idylle noch übrig war, in den bereitgestellten Sammelbehälter werfen. Schmerz und Wahnsinn schienen in die Mauern eingesickert zu sein wie alter Schweiß, und immer hörte man jemanden weinen oder lauthals fluchen. Für mich war es, als wechselte ich vom Sonnenschein in den Schatten, obwohl sie die Heizung immer um ein oder zwei Grad zu warm eingestellt hatten. Ich wusste nicht, wie weit das daran lag, was ich war, und inwieweit es nur Autosuggestion war.
Charles Stanger war ein paranoider Schizophrener, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem dieser Arbeiterhäuser drei Kinder ermordet hatte. In den Geschichtsbüchern war von zwei Opfern die Rede, aber es waren drei: Ich war ihnen begegnet. Er hatte den Rest seines Lebens zum Vergnügen Ihrer Majestät in Broadmore verbracht und in seinen lichteren Momenten – denn Charlie hatte in Cambridge studiert und konnte Sätze drechseln wie ein Tischler ein Tischbein – eloquente Briefe an den Innenminister, den Präsidenten der Howard-Strafrechtsreformliga und jeden anderen, der Interesse bekundete, geschrieben, in denen er den Mangel an angemessenen Einrichtungen für die langfristige Einkerkerung jener beklagte, deren Verbrechen nicht Schlechtigkeit oder abartiger Leidenschaft entsprangen, sondern einzig und allein der Tatsache, dass sie verrückt waren wie Scheißhausratten.
Nachdem er gestorben war, hatte man entdeckt, dass ihm nicht nur das Haus gehört hatte, in dem er gewohnt hatte, sondern auch das benachbarte. Sein letzter Wille bestimmte, dass sie einer Stiftung überlassen werden sollten in der Hoffnung, sie würden eines Tages die Keimzelle und die Vorlage für eine menschlichere und weniger entfremdende Institution, in der die gefährlich Gestörten ihre Tage sicher von den gewöhnlichen Kunden getrennt verbringen konnten.
Es ist wirklich eine zutiefst rührende Geschichte. Natürlich ein wenig traurig für die drei kleinen Geister, weil sie nun ihr Nachleben in Gesellschaft eines endlosen Stroms gewalttätiger Geistesgestörter verbringen mussten, die sie wahrscheinlich ständig an die Umstände ihres eigenen Todes erinnerten. Aber die Toten hatten keine Rechte. Die Geisteskranken schon, zumindest auf dem Papier, und die Charles-Stanger-Care-Facility bewegt sich auf dem üblichen schmalen Grat zwischen dem Respektieren dieser Rechte und ihrer Beschneidung. Die meisten Insassen wurden ziemlich gut behandelt, es sei denn, sie gerieten zum falschen Zeitpunkt mit dem falschen Wärter aneinander. Die Institution hatte während der letzten zwanzig Jahre nur vier Todesfälle zu verzeichnen gehabt und nur einen, der berechtigterweise fragwürdig genannt werden konnte. Ihn hätte ich auch gerne kennengelernt, aber er war nicht geblieben.
Stanger vertraute nicht auf die Wirksamkeit des Vogelbeerzweigs vom letzten April, und wenn man jemals selbst erlebt hatte, welche Auswirkungen ein Spuk auf die psychisch Gestörten oder Labilen haben kann, dann weiß man, warum. Die Stationen wurden auf wöchentlicher Basis geschützt, und zwar auf drei Arten: mit einem Kreuz und einer Mesusa für die zwei gängigen Weltreligionen, mit einem heidnischen Geißblattzweig und einem nekromantischen Kreis, der sorgfältig um die Worte »Hoc fugere« gezogen war – »Halte dich fern von diesem Ort«.
Die Oberschwester am Empfang sah auf, als ich hereinkam, und schenkte mir ein herzliches Lächeln. Carla. Sie war eine altgediente Kraft und wusste, weshalb ich das Privileg hatte, einfach von der Straße hereinzuspazieren.
»Guten Abend, Liebster«, sagte sie. Das war ihre übliche Anrede für mich, aber sie wusste, ich würde nicht auf dumme Gedanken kommen. Ihr Gatte, Jason, war ein kräftiger Wärter und konnte innerhalb von fünf Sekunden aus mir eine drollige Origamiskulptur falten. »Ich dachte, ihm geht es in letzter Zeit ganz gut.«
»Ihm geht es auch gut, Carla«, sagte ich und schrieb meinen Namen ins Besucherbuch. »Heute besuche ich ihn nur. Er hat mir geschrieben.«
Sie bekam große Augen, und lebhaftes Interesse zeigte sich in ihrer Miene. Clara war eine unverbesserliche Tratschtante. Es war ihr einziges Laster, und sie bedauerte zutiefst, dass echte Kliniken in Sachen Intrigen und Promiskuität nie an die Standards fiktionaler heranreichten.
»Ja, ich hab’s gesehen«, sagte sie und beugte sich ein wenig zu mir. »Er
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