Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
andere Stimme.
Ich hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde. Das war es nie. Mit dem Gefühl eines Mannes, der im Begriff war, aus dem Schützengraben zu springen und über Niemandsland zu stürmen, setzte ich mich vor ihm auf den Fußboden, schlug die Beine übereinander und nahm die gleiche Position ein wie er. Ich holte den Brief aus der Manteltasche, entfaltete ihn und hielt ihn so, dass er ihn sehen konnte.
»Du hast mir geschrieben«, sagte ich und betonte ganz bewusst das »Du«. Entgegen dem, was ich zu Carla gesagt hatte, war ich nicht hundertprozentig sicher, ob es Rafi oder sein böser Passagier gewesen war, der das Schiff gelenkt hatte, als der Brief entstand – und ich glaubte, es herausfinden zu müssen.
Rafi nahm mir den Brief aus der Hand und musterte ihn für eine Sekunde mit einem ruhigen, halb amüsierten Gesichtsausdruck. Flammen zuckten zwischen seinen Fingern hoch, schossen sofort zu den vier Ecken des zerknüllten Papiers und verschlangen es mit einem einzigen Hitzeblitz, den ich noch dort, wo ich saß, spürte. Rafis Finger öffneten sich, und dunkle Asche rieselte auf den Fußboden zwischen uns.
»Ja«, war alles, was er sagte. »Habe ich.« Er rührte mit den Fingern in der Asche und stierte auf den Boden.
»Du schreibst, ich sei im Begriff, einen Fehler zu machen«, ermunterte ich ihn und wurde von Sekunde zu Sekunde pessimistischer. »Welcher soll das sein, Rafi?«
Er schaute mich wieder an, und unsere Blicke trafen einander. Rafis Augen waren normalerweise braun. Diese jedoch blinkten schwarz, als würden Tränen aus Tinte aus ihnen hervorquellen.
»Du wirst diesen Fall übernehmen«, rasselte Asmodeus, »und es wird dich töten.«
3
A ls ich Rafael Ditko kennenlernte, hatte ich mich dicht vor dem unteren Ende einer Spirale befunden. Ich zählte neunzehn Jahre und war seit knapp einem Jahr in Oxford – strebte als Student nach einem akademischen Grad in Englisch, weil es auf der Schule mein bestes Fach gewesen war und weil mein Dad sich nicht vierzig Jahre lang auf Schiffswerften und in Fabriken abgerackert hatte, um mitzuerleben, wie seine Kinder das Gleiche taten.
Verzweiflung und Nihilismus hatten sich jahrelang in mich hineingefressen. Je mehr ich von den traurigen, nutzlosen Toten sah, die an den Grenzen des Lebens schwebten wie Bettler vor der Tür eines eleganten Restaurants, desto düsterer und hoffnungsloser sah das Universum für mich aus. Wenn es einen Gott gibt, dachte ich, ist er entweder ein Psychopath oder ein Versager. Niemand, den man respektieren konnte, hätte je ein Universum geschaffen, in dem man nur eine einzige Chance bekam, sich die Hände am Feuer zu wärmen, und dann den Rest der Ewigkeit draußen in der Kälte verbringen musste. Selbst wenn ich es schaffte, den verängstigten kleinen Geist meiner Schwester Katie und die Art, wie ich ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, zu vergessen, ergab das Leben für mich nicht genügend Sinn, um mich dafür einsetzen zu wollen.
Ditko war zweiundzwanzig, ein Austauschstudent aus der Tschechoslowakei, was damals eine Seltenheit war (mit »damals« ist der Beginn der hedonistischen 80er, die Morgendämmerung des neuen Zeitalters des heroischen Kapitalismus, gemeint). Mit seinem dunklen Haar und den dunklen Augen sah er aus wie der uneheliche Sohn eines Erzengels und einer Tempeltänzerin, und er überschüttete die Träume von unternehmerischer Apotheose, die die meisten seiner Kommilitonen heimsuchten, mit beißendem Spott. Ein Job im Herzen der Stadt? Rente mit dreißig? Scheiß drauf! Er stürzte sich kopfüber in Leben, Sex und Tod und tat es mit einer Begeisterung, die auch den geringsten Grad an Lebensplanung ausschloss.
Rafi lieh sich die Selbstsucht der Thatcher-Generation, probierte sie an und verwandelte sie in etwas Elegantes und Paradoxes. Ja, er spannte seinen Kommilitonen die Freundinnen aus, rauchte ihr Gras, machte es sich auf ihren Fußböden bequem und plünderte ihre Kühlschränke, aber er zahlte uns alles zurück, indem er uns Tickets für die Show zukommen ließ. Niemand schaffte es, ihn dafür zu hassen, nicht mal die Frauen, die er einsammelte und ausprobierte wie Modeschmuck an einem Marktstand. Nicht mal Pen, für die er der Erste und (letztlich) Einzige gewesen war.
Ich fragte mich manchmal, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er mir nie begegnet wäre. Gewiss, er war bereits vom Okkultismus fasziniert gewesen, aber das war damals ein eher akademisches Interesse,
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