Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
nur bei Gott, er hätte mich angesehen oder sonst wie zur Kenntnis genommen. Diese dauernde kalte Schulter erinnerte mich auf beunruhigende Weise an eine passiv-aggressive Freundin, die ich einmal hatte. War er Autist?
Peele schien zu erraten, was mir durch den Kopf ging.
»Sie finden meine Körpersprache vermutlich ein wenig verstörend«, sagte er. »Vielleicht fragen Sie sich sogar, ob ich ein psychisches oder neurologisches Leiden habe.«
»Nein, ich habe nicht …«
»Die Antwort lautet Ja. Ich habe Hyperlexie. Es ist ein Zustand, der auf gewisse Weise einem extremen Autismus ähnelt.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich? Höchstwahrscheinlich nicht. Wenn Sie mich in Gedanken als behindert einstufen, dann verstehen Sie nicht. Ganz und gar nicht. Ich konnte mit zwei Jahren lesen, und an meinem dritten Geburtstag konnte ich schreiben. Ich kann mir schwierige Texte nach einmaligem Lesen merken, selbst wenn ich die Sprache, in der sie geschrieben sind, nicht kenne. Hyperlexie ist eine Gabe, Mister Castor, kein Fluch. Sie bewirkt aber, dass ich auf die gesellschaftlichen Signale anderer Menschen auf ungewöhnliche Weise reagiere. Vor allem Blickkontakt bereitet mir Unbehagen. Tut mir leid, wenn Sie diese Diskussion deshalb als kompliziert oder unangenehm empfinden.«
»Schon gut«, sagte ich. Verlegen und leicht aus dem Gleichgewicht gebracht überkompensierte ich und redete nur, um die Stille zu füllen. »Tatsächlich füllt das für mich eine Lücke im Puzzle. Jetzt verstehe ich, weshalb Sie betonten, dass der Geist Sie anstarrt. Das ist für Sie vermutlich weit unangenehmer als für die anderen Angestellten hier.«
Peele nickte. »Sehr klug«, sagte er ohne Wärme. »Ein anderer Aspekt meines Zustands ist, dass ich die meisten Metaphern … verwirrend finde. Total unverständlich. Zum Beispiel, dass Sie mich mit einem Puzzle vergleichen. Ich höre das, aber es ergibt für mich keinen Sinn. Wenn Sie so nett wären und Metaphern vermeiden, wenn Sie mit mir sprechen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Gut.« Ich entschied, es sei wohl das Beste, die Diskussion auf rein sachlicher Basis weiterzuführen. »Lassen Sie uns noch einmal die Zeitläufte durchgehen«, sagte ich. »Die Sichtungen begannen im September, ja?«
»Ich glaube, ja. Zumindest erfuhr ich zu diesem Zeitpunkt das erste Mal davon, daher dürfte das der erste Eintrag im Protokollbuch sein. Ich selbst habe sie erst ein paar Wochen danach gesehen.«
»Wissen Sie ein genaues Datum? Für die erste Sichtung, meine ich?«
»Natürlich.« Peele schien ob der Frage ein wenig beleidigt. Er öffnete die Schreibtischschublade, holte ein dickes Journal mit marmoriertem Pappdeckel heraus, legte es vor sich auf die Schreibunterlage und begann darin zu blättern. Ich hatte vermutet, »Protokollbuch« sei lediglich eine veraltete, wunderliche Bezeichnung für eine Datei, aber nein, es war ein echtes Buch mit echter Handschrift darin. Vielleicht erzeugte die Arbeit an diesem Ort einen übertriebenen Sinn für Tradition.
»Dienstag, dreizehnter September«, sagte er. Er drehte das Buch um und schob es zu mir herüber. »Sie können die Notiz selbst lesen, wenn Sie wollen.«
Ich blickte auf die Seite. Der Eintrag für den 13. September zog sich fast über die ganze Seite, und Peeles Handschrift war sehr klein und eng. »Nein, schon in Ordnung«, versicherte ich. »Es ist unwahrscheinlich, dass ich im Einzelnen darauf eingehen muss. Jedenfalls erfolgte der Angriff auf Mr Clitheroe – Rich? – sehr viel später?«
»Ja.« Er drehte das Buch wieder um und zog es erneut zurate. »Das war am letzten Freitag, am 25.«
Ich ließ mir das für einen Augenblick durch den Kopf gehen. Ich pflegte Geister in aktive und passive zu unterteilen – wobei die Passiven mehr als fünfundneunzig Prozent ausmachten. Tote blieben meist unter ihresgleichen. Sie erschreckten uns nur, indem sie da waren, statt so weit zu gehen, uns zu schaden. Aber noch seltener als ein böser Geist war einer, der anfänglich friedlich war und sich dann ins Gegenteil veränderte.
Nun, das konnten wir einstweilen beiseitelassen. Was ich dringender brauchte als alles andere war ein Ort, an dem ich anfangen konnte.
»Denken Sie an den September zurück«, sagte ich. »Haben Sie in den Tagen oder Wochen vor der ersten Sichtung umfangreiche Erwerbungen gemacht? Was geschah sonst noch Ungewöhnliches Ende August oder Anfang September?«
Peele runzelte die Stirn und wühlte in den Archiven seiner
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