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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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ergründen, das mit der Vision einherging, den ersten Einhakpunkt. Ich begann das Netz meiner bizarren Wahrnehmungen über sie zu werfen, förderte eine Notenfolge zutage und verwandelte sie in Musik. Es war schwierig: Obgleich sie dort vor mir stand, war die Spur so schwach, als existierte sie gar nicht. Es war, als fixierte ich sie durch das verkehrte Ende eines Teleskops. Das war etwas, das ich noch nie zuvor erlebt hatte, und ich verstand es nicht. Aber wenn sie noch länger blieb, wo sie war, hätte es keine Bedeutung.
    Dann öffnete sich eine Tür etwa sieben Meter hinter ihr, und grellweißes Licht schien durch sie hindurch. Sie wandte sich ab und verschwand. Ich starrte auf Jon, der mich mit dem Ausdruck eines erschreckten Kaninchens ansah. Er hatte eine Aktentasche in der Hand, die er als Erklärung anhob – oder zum Schutz, weil er aussah, als erwartete er, geschlagen zu werden.
    »Ich bin zurückgegangen, um meine Aktentasche zu holen«, sagte er. »War das …? Scheiße, waren Sie …?«
    Ich ging im Kopf eine Reihe von Antworten durch, von denen die meisten um das Wort Flachwichser kreisten. Aber mit keiner würde ich mehr erreichen als die unmittelbare emotionale Katharsis.
    Daher war »Schließen Sie die Tür ab!« alles, was ich über die Schulter sagte, während ich mich entfernte.

7
    D er Abendgesellschaft ging die Luft aus.
    Das war noch vornehm ausgedrückt. Sie war tot. Selbst mein Vater, den man, wenn er in Fahrt war, nur noch durch Enthauptung hätte stoppen können, hatte schließlich die Segel gestrichen und starrte bloß auf seinen Teller. Meine Grundschulrektorin, Mrs Culshaw, stocherte in ihrem Gemüse herum. Der Spaßmacher neben meiner Mutter popelte gedankenverloren in der Nase, und sie tadelte ihn mit einem halbherzigen Kopfschütteln.
    Rund um den Tisch wandten sich mir Gesichter zu.
    »Spiel uns ein Lied, Fix«, sagte Pen und hob auffordernd die Brauen. »Ich wette, du kennst ein paar ganz erstaunliche.«
    Ich schüttelte den Kopf, aber alle nickten. Alte Schulfreunde, alte Rivalen, Frauen, mit denen ich geschlafen hatte, der Herr aus dem Eckladen in der Arthur Street, alle wollten ein wenig unentgeltliche Unterhaltung, und ich war nun mal da.
    Zögernd erhob ich mich.
    »Spiel das Lied, das deine Schwester Kate so gern mochte«, sagte mein Vater. »Das du gespielt hast, ehe sie starb.« Ein Lachen über seinen kleinen Scherz ging um den Tisch. Er wechselte einen Blick mit meiner Mutter, die gönnerhaft nickte, als hätte er in irgendeinem inoffiziellen Spiel einen Punkt erzielt.
    »Spiel sie zurück ins Leben«, schlug mein Bruder Matthew vor. Er segnete mich spöttisch mit dem Kreuzzeichen.
    Das gab den Ausschlag. Das gab immer den Ausschlag. Ich wollte sie zum Schweigen bringen, und der schnellste Weg, um das zu erreichen, war zu tun, worum sie baten. Ich setzte die Flöte an und blies einen einzigen Ton: durchdringend, kreischend, lang anhaltend. Der Ausdruck der Gesichter um den Tisch verwandelte sich von süffisantem Lächeln in Betroffenheit. Dann modulierte ich diesen hohen Ton zu einer jammernden, peitschenden Melodie, und sie rangen nach Luft.
    Ich erinnerte mich nicht immer, welches Lied ich in diesem Traum spielte, aber diesmal war es »The Bonny Swans«. Als ich zum ersten Refrain kam, hielt sich jeder den Kopf oder den Bauch, rutschte vom Stuhl oder sackte unter gepeinigtem Stöhnen auf den Tisch.
    Es war klar, die Musik tötete sie. Ich fühlte mich deshalb ein wenig schlecht, haderte sogar mit mir, aber das brachte mich nicht dazu aufzuhören. Sie hatten um eine Melodie gebeten, und ich lieferte sie ihnen, während die, die zur Tür zu kriechen versuchten, zusammenbrachen und sich zusammenrollten und die, die nur auf ihren Stühlen zusammengesunken waren, im Zeitraffertempo verdorrten und verfielen.
    Ich erledigte sie alle. Keine Scham mehr. Keine Ansprüche. Sie hatten es gewollt, und sie kriegten es. Schließlich ließ ich die Tin Whistle sinken, die in meiner Hand nun so heiß war wie eine Pistole nach dem Schuss. Ich schob sie befriedigt in die Tasche zurück.
    Dann ertönte hinter mir ein schmatzendes Gurgeln. Es war ein furchtbares Geräusch. Ein Klang unbeschreiblicher Not und Qual. Die Art von Laut, die signalisierte: »Hol mich entweder zurück oder mach Schluss mit mir, aber lass mich nicht zwischendrin hängen wie ein Kaninchen in einem Stacheldraht!«
    Die Tin Whistle hatte mich im Stich gelassen. Diesen hier musste ich mit bloßen Händen töten.
    Ich

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