Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
sein, an dem nie viel passierte. Keine Schundgeschichten. Keine viktorianischen Melodramen. Keine Spuren, die man hätte verfolgen können, was insofern eine Hilfe war, dass sich mir keine weiteren Sackgassen mehr öffneten – und mich zurückwarf auf meine eigenen Möglichkeiten. Das war gut, denn ich hatte noch immer einige.
Als ich auf die sonnenbeschienene Straße zurückkehrte und im grellen Licht blinzelte, das nach der halbdunklen Welt irgendwie irreal erschien, drückte sich die zurückgekehrte Frau, die ich unterwegs getroffen hatte, auf dem adretten Rasenstreifen vor dem Nebeneingang der Bibliothek herum. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Lippen bewegten sich wortlos.
Ich musste an ihr vorbei, aber diesmal machte ich einen Bogen um sie. Ich wollte nicht in ihre private Welt ungelöster Krisen und stillstehender Zeit hineingeraten. Ich ging etwa zehn Meter weiter die Straße hinunter.
»Felix …« Die Haare in meinem Nacken stellten sich knisternd auf. Ich wirbelte herum. Nichts in ihrem zombiehaften Gesichtsausdruck und in ihrer Haltung hatte sich verändert. Es war möglicherweise noch nicht einmal ihre Stimme gewesen. Ein undeutlicher, gemurmelter Laut war wie der andere.
Doch dann schlug sie ihre Augen auf. Sie sah hoch und um sich, dann fixierte sie mich mit einem leicht benommenen Blick.
»Er sagt, Sie seien jetzt dichter dran als je zuvor«, wisperte sie. »Selbst wenn Sie denken, Sie hätten verloren. Er sagt, dies sei der Punkt, wo es heiß zu werden beginnt.«
Ein weiterer Krampf verzerrte kurz ihr blasses Gesicht. Ihre Augen schlossen sich wieder, und sie kehrte zu ihrem wortlosen Sermon zurück. Es gab nichts zu sagen, also schwieg ich.
Eine weitere Station musste ich noch aufsuchen, und die lag nicht ganz auf meinem Weg.
*
Nick residierte im alten EMD-Kino in Walthamstow. Dort hatte er jede Menge Platz, mehr als er eigentlich brauchte, wenn er ehrlich war. Das Gebäude war seit 1986 geschlossen und mit Brettern zugenagelt. Hinein kam man durch ein Fenster im ersten Stock, aber das war weniger umständlich, als es klang, denn hinter dem Gebäude stand ein Schuppen mit einem Flachdach. Man musste nur am Fallrohr hinaufklettern, was, wenn man es als Kind gelernt hatte, etwas war, was man nie vergaß.
Nick war wie immer im Projektionsraum. An seinem Computer, wie immer, und wie immer spürte ich die schneidende Kälte durch meinen bis obenhin zugeknöpften Mantel. Die Klimaanlagen hatten Industriestandard, aber Nick hatte sie überarbeitet, zerlegt und nach seinen eigenen, anspruchsvollen Anforderungen wieder zusammengebaut. Die Luft, die sie jetzt rausbliesen, war wie ein Wind, der vom Südpol über das Larsen-Schelfeis fegte.
Nicky freute sich, mich zu sehen, denn ich brachte ihm gewöhnlich etwas mit, um zwei seiner drei Süchte zu befriedigen – zum Beispiel eine Flasche richtig guten französischen Rotweins und ein paar Jazz-Singles aus den Vierzigerjahren. An diesem Tag mogelte ich ein wenig. Ich hatte nur Wein. Dennoch begrüßte er mich herzlich. Er hatte einige neue Muster im kurzlebigen Kräuseln der materiellen Welt entdeckt und wünschte sich jemanden, um sie ihm vorzustellen.
»Hier, Fix«, sagte er voller Eifer und drehte den Bildschirm zu mir um. »Sieh dir das an! Schau mal, wo es eine Spitze hat!«
Mit seiner Mittelmeerbräune und seiner umfangreichen (wenn auch größtenteils per Ladendiebstahl erworbenen) Garderobe sah Nick nicht aus wie eine wandelnde Leiche, sondern wie ein Dressman, der gerade harte Zeiten durchmachte. Das war ein Tribut an seine absolute Leidenschaft – eine obsessive Aufmerksamkeit für Details. Die meisten Toten, die in ihren Körpern auferstanden waren, wanderten gerne unglücklich und ziellos umher und überschritten ihr Verfallsdatum immer weiter, bis sie den Kampf zwischen Verwesung und Willenskraft verloren. Dann fielen sie um und standen nicht mehr auf. In seltenen Fällen fand der Geist, der sich aus seinem fleischlichen Zuhause befreit hatte, einen anderen freien Kadaver und fing wieder von vorn an. Meist gaben die Toten gewissermaßen einfach den Geist auf.
Aber das war nicht Nickys Stil. Zu Lebzeiten – damals hatte ich ihn auch kennengelernt – war er einer der gefährlichsten Spinner gewesen, die ich jemals außerhalb einer geschlossenen Anstalt angetroffen hatte. Was ihn so gefährlich machte, war seine Fähigkeit, sich auf eine einzige Idee zu konzentrieren und sie auszupressen, bis das Blut kam. Er war ein
Weitere Kostenlose Bücher