Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
hatte der dann seine Nummer? Er hatte eigentlich seit langem keinen Kontakt mehr zu den Schulkameraden, auch zu seinem ehemaligen Banknachbarn nicht. Plötzlich fiel ihm ein, dass ihn Gudrian einmal in seiner Dienststelle angerufen hatte. Es musste fünf oder sechs Jahre her sein. Vielleicht waren es auch zehn. Es war ein seltsames Gespräch, voller Schüchternheit und Vorsicht, voller schlechten Gewissens, dass man sich so lange nicht angerufen hatte. Bernie brauchte seine fachmännische Hilfe. Er hatte einen Klienten zu verteidigen, der behauptete, bei einer Polizeivernehmung unsanft behandelt worden zu sein. Er hatte ein paar Fragen zur Polizeiarbeit allgemein und zu Vernehmungstechniken im Speziellen. Jennerwein versprach, sich in der Mittagspause zu melden. Er hatte dann um zwölf von seinem Handy aus zurückgerufen. Jetzt erst, Jahre später, wurde ihm klar, dass Gudrian dadurch seine Mobilnummer hatte. Jennerwein schüttelte den Kopf. Dass ihm das nicht früher eingefallen war! Er war eben nicht der Spezialist in modernen Kommunikationsmitteln. Im Team hatte Nicole Schwattke die Nase vorn, sie war Mitte zwanzig, sie war mit solchen technischen Dingen aufgewachsen. Doch auch alle anderen im Team twitterten und bloggten sich durch den Polizeialltag. Die SMS war also mit Sicherheit von seinem ehemaligen Schulfreund. Er musste das Naheliegende tun und Gudrian selbst anrufen. Abermals wählte er die Nummer der Leitstelle.
»Hier nochmals Jennerwein. Ich brauche eine Personenauskunft. Kleine Anfrage. Eigentlich brauche ich nur die Telefonnummer. Nachname: Gudrian. Vorname: Bernhard. Geboren am 13 . April, um das Jahr 63 herum. Beruf: Rechtsanwalt. Dürfte irgendwo in Südbayern leben.«
Nach kurzer Zeit konnte ihm der hilfsbereite Beamte die Handynummer und die Festnetznummer diktieren. Unruhig sah sich Jennerwein um. Kein Mensch weit und breit. Jetzt anrufen? Er zögerte. Er wollte sich keine Blöße geben. Er wollte nicht in irgendeine fiese Falle tappen, die ihm seine Schulkameraden gestellt hatten, um ihn doch einmal zu einem Klassentreffen zu locken. Jennerwein beschloss, den Anruf noch ein wenig hinauszuschieben. Die Besprechung, die er vor sich hatte, machte ihn äußerst nervös, und sie war ihm sehr wichtig. Er blickte auf die Turmuhr der St.-Martins-Kirche. Es war jetzt kurz nach halb zwölf, um zwölf sollte er vor der Terrasse des Ausflugslokals
Bergpanoram
a sein, dort hatte er sich mit Professor Köpphahn zu einem Spaziergang verabredet.
Die Besprechung mit dem Neuropsychologen war längst überfällig. Die Koryphäe auf dem Gebiet von Wahrnehmungsstörungen und diversen Agnosien hatte ihm ein vertrauliches Gespräch bezüglich seiner Akinetopsie zugesagt. Jennerwein litt an einer temporären Bewegungsblindheit. Hauptsächlich wenn er in Stress geriet, blieben die Bilder vor seinen Augen stehen, während die Geräusche der Welt weiterliefen. Die Anfälle, die nur wenige Minuten dauerten, traten nicht mehr so häufig auf wie früher, Jennerwein glaubte, dass er die Krankheit langsam im Griff hatte. Er bildete sich sogar ein, die Anfälle steuern zu können. Doch er war Realist genug, um zu wissen, dass seine berufliche Existenz damit auf dem Spiel stand. Wenn diese Krankheit bekannt wurde, waren ihm ein Disziplinarverfahren und eine peinliche Entlassung sicher. Er konnte sich andererseits ein Leben außerhalb des Polizeidienstes kaum vorstellen. Er war sich zwar sicher, dass außer dem Arzt niemand von der Behinderung wusste, doch Maria Schmalfuß, die Polizeipsychologin, ahnte vermutlich, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Sonst würde sie ihn nicht manchmal so seltsam (beobachtend? prüfend? differentialdiagnostisch?) mustern. Aber in Kürze würde sich zeigen, wie es um ihn bestellt war. Professor Köpphahn betreute alle bekannten Akinetopsie-Patienten, die es weltweit gab. Es waren nicht mehr als fünfzig, und sie litten meist an einer wesentlich dramatischeren, nämlich chronischen Form dieser seltenen Krankheit. Sie konnten den Alltag nicht alleine meistern, geschweige denn einem Beruf nachgehen. Diese Informationen hatte er aus dem Internet gezogen. Er war wegen seiner temporären Anfälle noch nie bei einem Arzt gewesen. Es war das erste Mal, dass er sich jemandem anvertraute. Er hatte es so geplant, dass die Besprechung mit Professor Köpphahn außerhalb des Kurorts stattfinden sollte, auf dem Wanderweg vom Ausflugslokal
Bergpanorama
zum nahe gelegenen Eckbauerberg. Einheimische waren
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