Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
die verletzte Hand instinktiv zurück.
Der Gangster stieß dem aufstöhnenden Opfer, das am Abgrund stand, mit der Maschinenpistole in den Rücken, so dass die bemitleidenswerte Gestalt noch einen Schritt nach vorne stolperte. Gesteinsbrocken rollten den abschüssigen Fels hinunter, polterten über die Kante und fielen lautlos in die Tiefe. Man hörte keinen Aufprall. Es musste schon sehr tief hinuntergehen. Der Gangster packte das Opfer an der Schulter und drückte es noch weiter zum Abgrund hin.
»Lass ihn los! Lass ihn endlich los! Ja, ich rede! Ich bin bereit zu reden! Ich sage, was du wissen willst! Lass ihn los, und komm her!«
Das war die Stimme des Mannes, den der Geiselnehmer vorhin weggeschleppt und malträtiert hatte. Ein paar drehten ihre Köpfe in die Richtung. Er war nicht zu sehen. Er war hinter dem Felsen wohl ebenfalls mit Handschellen gefesselt.
Der Geiselnehmer schien einen kurzen Moment unentschlossen. Er wandte den Kopf in die Richtung, in der der Rufer sich befinden musste, dann drehte er sich wieder zu der zitternden Geisel. Und genau in diesem Augenblick fing es an, heftig zu regnen. Es waren dünne, scharfe Wasserduschen, die von allen Seiten, schräg, wild durcheinander, scharf einpeitschend auf die Maskengesichter der Geiseln trafen. Das Wasser spritzte in die Augenschlitze, viele hielten sich die freie Hand schützend vor das Gesicht. Abermals hörte man aus der Entfernung die Stimme des Mannes, der weggeschleppt worden war, diesmal abgedämpfter, aber umso verzweifelter.
»Lass ihn los!«, krächzte er. »Lass ihn sofort los! Um Himmels Willen! Komm her zu mir! Ich sag dir alles!«
Der Regenguss wurde stärker. Alle hielten den Atem an. Würde der Gangster die Geisel verschonen? Ließ er nun von ihr ab, und ging er zu dem Mann dort hinten? Der Geiselgangster trat einen Schritt zurück. Er nahm die Bison vom Rücken der Geisel. Bestand jetzt Hoffnung? Oder wollte er nur Schwung holen, um zuzustoßen?
Houdini sah den richtigen Zeitpunkt gekommen, zu handeln. Ob nun der Geiselgangster unentschlossen war oder vielleicht nur genervt von dem losbrechenden Regen – ganz sicher war er abgelenkt. Der Regen war inzwischen auch geräuschvoll genug geworden, um aufzuspringen, die vier oder fünf Schritte zu dem Gangster hinzustürzen, ihn von hinten zu umfassen und zu Boden zu werfen, in Richtung zweier anderer Geiseln, die in seiner Nähe saßen. Sie würden verstehen, sie würden helfen, ihn zu überwältigen, sie würden ihm die Pistole aus der Hand reißen. Sie würden schon wissen, was zu tun war. Der Gangster stand in einer Distanz von fünf Metern mit dem Rücken zu Houdini. Er würde nur zwei Sekunden brauchen, bis er bei ihm war, in seinem Rücken wollte er dann losschreien, kreischend losbrüllen, er wollte ein archaisches Kriegsgeheul anstimmen – eine große akustische Misdirection. Der Gangster würde mit solch einem Überraschungsangriff nicht rechnen. Houdini schloss die Augen. Jetzt oder nie. Er konzentrierte sich wie ein Hundertmeterläufer, der im Startblock zittert.
Auch der schmallippige Mann mit der abgeschabten Lederjacke, in dessen Rucksack sich die Spritze neben der Ampulle Dormicum befand, hatte einen Entschluss gefasst. Er befand sich in unmittelbarer Nähe des Geiselnehmers, er saß direkt vor seinen Füßen. Der Regen prasselte volltönend auf die Steine, auch er sah darin ein Zeichen, loszuschlagen. Zudem würden seine eigenen Vorbereitungsgeräusche dadurch überdeckt, abgeschwächt, vielleicht sogar ganz unhörbar gemacht werden. Er hatte nur eine Hand zur Verfügung. Er ging alles im Geiste noch einmal durch: Zuerst der schnelle Griff in den Rucksack, an allen Pullovern und Plastiktüten vorbei, das Herausholen der Spritze, das Aufbrechen der Ampulle, das Aufziehen zwischen den Knien, der Stich ins Bein des Gangsters. Der stand in Greifweite, solch eine Gelegenheit würde sich nicht wieder bieten.
Houdini setzte zum Sprung an, der mit der Lederjacke spannte die Muskeln. Doch ein Dritter hatte ebenfalls den Entschluss gefasst, zu handeln. Es war der Bärtige. Sein Plan war einfach. Er wollte das brutale Schwein mit der Wahrheit konfrontieren. Er wollte ihm zeigen, dass sein Plan gescheitert war. Er richtete sich auf, soweit es ging, schwang die verletzte, zu monströsen Ausmaßen angeschwollene Hand – und dann brüllte er, so laut er konnte:
»Jean-Jacques, verdammter Idiot!«, kreischte er. »Ich weiß, dass du es bist! Was willst
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