Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Plusdreißiger-Eltern hatten sich schon ins Café des Freibads geflüchtet. Die jungen Wilden um Tom, Bastian und Motte fanden sich unter dem Dach der Imbissbude zusammen. Mona stand neben Tom. Tom stand neben Mona. Es knisterte. Joey packte seine Gitarre aus und jammte alte Regenlieder. Er spielte ♫
Purple Rain …
, und alle sangen den Refrain mit.
»Seid mal kurz still!«, rief Jeanette. »Bei dem Wetter werden unsere Alten auf dem Berg doch übelst nass. Ich ruf lieber mal meine Mutter an.«
»Und?«
»Wieder die Mailbox. Find ich langsam komisch.«
»Wieso, lass die doch auch ihren Spaß haben.«
»Aber warum geht keiner von denen ans Telefon?«
Unter dem Kastanienbaum saß Professor Köpphahn. Er war von den Ergebnissen der Untersuchung Jennerweins immer noch so fasziniert, dass er alles um sich herum vergessen hatte. Er war unter dem Baum sitzen geblieben. Um ihn herum krachte, zuckte und prasselte es, der Professor achtete nicht darauf. Er bekritzelte Seite für Seite seines Collegeblocks und murmelte unverständliches Fachvokabular. Die Untersuchung war kurz gewesen, aber er hatte alles gesehen, was er sehen wollte. Erst jetzt blickte er auf. Regen hatte ihn vollkommen umzingelt. Er entschloss sich dazu, einen befreundeten Neurologen anzurufen. Die Verbindung war schlecht.
»… fgt … wenn d… habe kein …«
»Ja, jetzt ist es besser. Was gibts?«
»Darf ich Sie kurz stören, Herr Kollege?«
»Was rauscht denn da bei Ihnen so im Hintergrund?«
»Das? Das ist ein alpenländisches Gewitter.«
»Und da sitzen Sie wohl auf dem Balkon eines herrlichen Landhauses, wie?«
»Nein. Ich sitze unter einem Baum.«
»Es ist hoffentlich kein Weidenbaum. Sie wissen schon: Buchen sollst du suchen. Weiden sollst du meiden.«
»Weiden sollst du meiden? Ach so! Ich habe das immer auf die Stadt bezogen.«
»Jetzt aber zu Ihrem Patienten, Kollege. Muss ja ein absolut wichtiger Kandidat sein, wenn Sie ihn so inkognito untersuchen. Lassen Sie mich raten: ein Politiker?«
»Dazu sage ich jetzt nichts. Ärztliche Schweigepflicht. Ich habe bei dem Patienten eine leichte Form von temporärer Akinetopsie diagnostiziert. Ganz eindeutig ist der Befund jedoch nicht. Ich bezweifle, dass es sich um die klassische Akinetopsie handelt. Aber er hat ähnliche Symptome.«
»Naja, es könnte sich auch um andere neurologische Störungen handeln.«
»Ihr Tipp?«
»Ich denke da zum Beispiel an eine Migräne-Aura, die der eigentlichen Migräne vorausgeht.«
»Aber er spricht von stehenden Bildern, von Filmrissen, vom Fotoalbum-Effekt. Kann das Autosuggestion sein?«
»Durchaus möglich. Ich stelle mir vor, Ihr Patient bekommt eines Tages unspezifische Sehstörungen, mit Symptomen, die er nicht deuten kann. Er geht jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht zum Arzt, er wälzt Fachbücher und schaut im Netz nach. Er stößt auf die Art von Bewegungsblindheit, die dort beschrieben wird. Die Krankheit ist wenig erforscht, eigentlich so gut wie gar nicht. Vieles bleibt im Unklaren, für den Laien ohnehin. Also baut er sich aus dem, was er liest und hört, ein Krankheitsbild zusammen.«
»Funktioniert das?«
»Natürlich. Der Projewkin-Effekt. Ein Patient liest alles von einer Krankheit und eignet sie sich an. In Wirklichkeit –«
»– hat er eigentlich nur eine Migräne-Aura.«
»Ich würde ihn ganz gerne selbst mal untersuchen. Ist er bei Ihnen? Kann ich ihn sprechen?«
Professor Köpphahn lächelte. Sein Patient war irgendwo da unten auf Verbrecherjagd. Vielleicht langweilte er sich auch nur, wenn er keinen Fall zu lösen hatte. Das stresste ihn. Und dann bekam er seine Anfälle. Faszinierend.
Christine Schattenhalb-Keneally sah aus dem Fenster und beobachtete ihre Schafherde. Was war denn das jetzt für ein eigenartiger Anruf gewesen? Sie setzte sich auf ihr Sofa und ließ ihre Gedanken zurückschweifen in die Abiturklasse. Es war verdammt lang her, an vieles konnte sie sich nur verschwommen erinnern. Doch Jennerwein war nett gewesen. Er war zwei Reihen vor ihr gesessen. Ein netter, interessanter, etwas introvertierter Typ. Sie hätte ihn gerne einmal wiedergesehen. Fichtl hatte am Telefon erzählt, er hätte Ähnlichkeit mit – wie hieß jetzt gleich noch mal der englische Schauspieler? Keine Hochzeit, nur Todesfälle? Egal. Sie stand wieder auf und blickte erneut aus dem Fenster. Auf der großen Wiese vor dem Haus grasten ihre Schafe. Fünfundzwanzig davon waren türkische Fettschwanzschafe. Diese
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