Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Tiere waren ihr großes Kapital. Ihr riesengroßes Kapital. Jedes dieser Schafe war einige zehntausend Dollar wert. Sie brauchte nur noch wenige Deals mit ein paar Typen aus Adelaide durchzuziehen, dann hatte sie ausgesorgt. Dann konnte sie eine ganz normale, harmlose Schafzüchterin werden. Aber warum rief ausgerechnet jetzt jemand von der deutschen Polizei an? Das war doch nicht möglich, dass Hubertus Jennerwein etwas von ihren Geschäften wusste! Oder doch? Nein, völlig unmöglich. Ihr Plan, den sie zusammen mit ihrem Mann hundertmal durchgespielt hatte, war absolut wasserdicht. Trotzdem. Sie musste vorsichtig sein. Sie zückte das Telefon und wählte eine Nummer.
Der Talkessel verdunkelte sich zusehends, niemand im Kurort konnte sich vorstellen, dass vor einer halben Stunde noch ein herrlicher Sommertag gewesen war. Den rüstigen Geocacher allerdings störte der verregnete Mittag überhaupt nicht. Er hatte seine altmodische, aber immer noch nützliche eingefettete Pelerine übergestreift, er ging mit strammen und zielgerichteten Schritten in Richtung der Koordinaten 47 ° 30 ' 28 '' nördlicher Breite und 11 ° 2 ' 52 '' östlicher Länge. Das war sein nächstes Ziel. Er betrachtete das Display seines GPS -Empfängers und musste lächeln. Der Kurort hatte ausgerechnet die Koordinaten 47 11 . Wenn das nicht ein Zeichen war. Franz Schuberts geheimnisvolle Musik, die aus den Kopfhörern quoll, lenkte seine Gedanken sogar in Richtung einer geheimen Verschwörung. Er rechnete aus, dass er in einer guten Stunde am Ziel sein würde.
Ursel Grasegger nahm den Regen kaum mehr wahr, nur von ferne, als anregende Geräuschkulisse für ihre Studien. Sie saß schon über das erste Kirchenbuch gebeugt.
»Ein Gläschen Wein?«, fragte der Pfarrer.
Ursel verneinte.
»Danke, erst nach Sonnenuntergang. Ich bin ja wegen der Kirchenbücher hergekommen.«
»Was genau suchen Sie denn, Frau Grasegger?«
»Ich möchte an die Namen aller Bürgermeister und Gemeindevorstände kommen, die es im Kurort gegeben hat.«
»Bis wie weit zurück?«
»Ja, bis wie weit zurück gibt es denn Aufzeichnungen?«
»Fast bis in die Steinzeit. Wir haben Glück in dieser Gemeinde. Die meisten der Aufzeichnungen sind noch erhalten. Keine Kriegsschäden. Keine Brände. Nur manchmal ein bisschen Hochwasser. Aber sonst: das Tal der Seligen.«
Wortlos legte ihr der Pfarrer ein paar verstaubte Dokumente auf den Tisch.
»Das ist nur ein kleiner Teil. Im Archiv habe ich mehr. Sie reichen zurück bis ins Jahr zwölfhundertsoundsoviel, bis zum Zeitpunkt, als ein gewisser Emicho von Freising das Werdenfelser Land in seinem Besitz hatte.«
»Sie reichen Hunderte von Jahren zurück? Respekt für Sie und Ihre Vorgänger.«
»Die Bürgermeister aus der Steinzeit bringe ich Ihnen gleich«, scherzte der Pfarrer.
Doch Ursel hörte es nicht. Sie war schon über eine Liste von Gemeindevorstehern aus dem neunzehnten Jahrhundert gebeugt. Sie hießen alle Sylvester, Balthasar, Fürchtegott und Quirin.
Auf dem Wochenmarkt ging es lebhafter zu. Die Besucher hatten sich vor dem Regen unter die Dächer der Stände geflüchtet. Plötzlich drehten sich einige in Richtung Straße. Dort sah man eine Gestalt rennen.
»Hopp, hopp, hopp!«, riefen einige Witzbolde.
»Hoffentlich gibts auf dem Revier trockene Klamotten!«
Jennerwein achtete nicht darauf. Er war froh, dass alle unter den Markisen Zuflucht gesucht hatten. Dadurch war die Marktstraße leer. Er war durchnässt bis auf die Haut. Und er war sehr in Eile.
PROF. DR. UTA EIDENSCHINK
Universität Mainz, Institut für Soziologie
Liebe Klassenkameraden!
Ja, ich komme sehr gerne zum Klassentreffen. Ihr wisst ja, dass ich inzwischen an der Uni Mainz in Soziologie habilitiert bin. Jetzt hätte ich eine Bitte. Eine Studentin von mir hat kein Thema für ihre Doktorarbeit gefunden, und ich habe ihr ›Das Klassentreffen – eine soziopathologische Konfliktsituation?‹ angeboten. Sie hat einen Fragebogen erstellt. Könnt ihr den bitte ausfüllen? Es geht natürlich alles vollkommen anonym vor sich. Es sind Fragen wie diese zu beantworten:
Gehst du regelmäßig (und gern) zu den Treffen?
Freust du dich auf jemanden besonders?
Könntest du im Gegenteil jemanden erwürgen?
Nimmst du dir jedes Mal wieder vor,
nicht
hinzugehen?
Hast du damals in der Schule gespickt, geschummelt, gefälscht, gemobbt, geschlägert? …
Erkennst du noch alle wieder?
Freust du dich, wenn es anderen schlechter geht als
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