Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
außer Atem.
»Ach, sagen Sie bloß, Hubertus, Sie können heute Abend nicht!?«
»Nein, ich brauche Sie gleich.«
»Gleich? Jetzt sofort?«
»Ja, kommen Sie ins Revier. Der Schmied von Kochel.«
»Der schon wieder«, sagte Maria und legte auf.
Jennerwein hatte die Fußgängerzone verlassen. Der Autoverkehr zockelte hier langsam um eine Kurve und staute sich vor einer roten Ampel. Er lief zum ersten Fahrzeug und zeigte den Ausweis.
»Polizeieinsatz! Fahren Sie mich bitte sofort …«
Eine Dame mit frisch gestutztem Bubikopf (unverkennbar vom Friseursalon
Hairbert
) öffnete die Beifahrertür. Die Dame verstand sofort.
»Bei Rot drüber?«
»Bei Rot drüber.«
Sie fuhr wie der Henker. Mit kreischenden Bremsen hielt sie vor dem Polizeirevier.
»Viel Glück!«, rief sie ihm nach.
Aber das hörte Jennerwein schon nicht mehr.
N.N.
Hallo!
Ich schreibe anonym, und ich sags ganz direkt: Die Schule war für mich die Hölle. Es gibt mehrere Leute, die ich heute noch an die Wand klatschen könnte. Solch eine Ansammlung von Wichtigtuern, aufgeblasenen Gockeln und dummdreisten Krampfhennen habe ich nie mehr gesehen. Dass wir uns richtig verstehen: Ich habe jetzt nichts aufzuarbeiten. Ich bin damals weder gemobbt noch verprügelt worden, ich habe mich mit niemandem zerstritten, ich kann keinem etwas vorwerfen, ich fand die Ansammlung von euch üblen Dreckfressen einfach nur ekelhaft. Ich möchte meinen Namen nicht sagen. Ich schieße aus dem Hinterhalt, das ist mir klar. Damit jetzt nicht der Verdacht auf einen fällt, der dieses Jahr nicht am Klassentreffen teilnimmt, gehe ich vielleicht hin. Erst recht. Ihr könnt euch also nicht sicher sein, wer es ist. Ich werde hingehen und mir euch verlogene Bande nochmals aus der Nähe anschauen. Da wird gr 0 ß auf Harmonie gemacht, und dann hat jeder Dreck am Stecken. Fichtl? Schlägt seine Frau. Eidenschink? Ist schwere Alkoholikerin, säuft wie ein Loch, meint, niemand bemerkt es. Gudrian? Besucht heimlich Spielhöllen in Tirol. Verspielt dadurch Haus und Hof. Irene? Hat vor Jahren bei einem Unfall Fahrerflucht begangen. Wiedergutmachung: Fehlanzeige. Oberforstrat Schäfer – der ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit, der spinnt total. Gehört eigentlich in die Psychiatrie, und zwar so schnell wie möglich. Jakobi? Geilt sich daran auf, Mitarbeiter in seiner Firma fertigzumachen. Christine Schattenhalb? Völlig überstürzter Aufbruch nach Australien, seitdem kein Besuch mehr in Deutschland – das gibt zu denken. Prallinger – im Ministerium kaltgestellt und zurückgestuft wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen. Jennerwein? Der dürfte seinen scheinheiligen Beruf gar nicht ausüben … Ich könnte noch ewig so weitermachen, ich weiß, dass jeder von euch irgendetwas zu verbergen hat.
Euer N.N., ein ehemaliger Schüler des beschissenen Jahrgangs 82 / 83
(Liebe Freunde, ich habe mir lange überlegt, ob ich diesen Beitrag in die Klassenzeitung aufnehmen soll. Ich weiß wirklich nicht, wer das geschrieben hat. Der Brief lag unfrankiert bei mir im Postkasten. Aber ich denke mir, dass auch das zu einer in der Vergangenheit wild zusammengewürfelten Klasse gehört. Zu den einzelnen Vorwürfen? Ich schlage meine Frau natürlich nicht!!! (Ich bringe Karla mit. Sie wird es bestätigen.) Vielleicht können wir ja beim Klassentreffen darüber reden. Und derjenige sollte sich outen, das wäre meine Bitte. Euer Harry Fichtl)
22
Die Geiseln saßen reglos auf dem Boden. Seit sie gesehen hatten, was geschehen war, wagte keiner mehr aufzublicken. Der grässliche Schrei klang allen noch in den Ohren. Wer von ihnen war das gewesen, der über die Klippe in den sicheren Tod gestürzt war? Wer hatte solch eine gelbschwarze Windjacke getragen? Keiner konnte sich mehr daran erinnern.
Jetzt kam auch noch das Geprassel auf die kupferne Abdeckung des Gipfelbuchkastens dazu. Einige versuchten zu erkennen, ob es nicht schon hagelte. Und tatsächlich: Unter den Regen mischten sich einige kleinere Eisgeschosse. Wenn der Hagel stärker wurde, dann waren sie ihm alle schutzlos ausgeliefert. Die meisten ließen die Köpfe sinken. Vom Geiselgangster hatten sie jetzt schon einige Minuten nichts mehr gehört oder gesehen. Aber jeder spürte es. Er war in der Nähe. Er beobachtete sie. Niemand wagte, etwas zu sagen, niemand unternahm etwas. Sie hatten ihre Lektion gelernt. Jetzt wussten sie, dass es um ihr Leben ging. Und da war es wieder, das verhasste Knacken, das sie
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