Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Kameraden retten. Er atmete tief durch, um Kräfte zu sammeln. Er spannte seine Muskeln, er zog ein Bein in Sprungposition, richtete sich halb auf, sandte noch ein kurzes, stummes Stoßgebet zum Himmel, da dröhnte von links hinter dem Felsen plötzlich wieder die verhasste Megaphonstimme:
»Mannomann, kapiers doch endlich: Die verdammten Koordinaten genügen mir nicht! Ich will die genaue Stelle wissen.«
Ein Klatschen, ein Schlag, ein lautes Aufstöhnen. Dann sich nähernde Schritte auf dem Geröll. Bedrohlicher als je zuvor, brutaler als je zuvor. Schweratmend und keuchend stand der Geiselgangster unter ihnen, die Maschinenpistole im Anschlag.
»Und was habe ich zu euch gesagt! Habe ich was von Aufrichten und gemütlich Rumsitzen gesagt? Alle knien sich hin, alle legen die Unterarme auf den Boden, alle verbergen das Gesicht in den Händen! Und zwar dalli!«
Sie taten wie befohlen. Houdini zögerte noch einen kurzen Augenblick, nahm jedoch dann ebenfalls diese unbequeme Position ein. Er zitterte am ganzen Körper. Das war gerade noch einmal gutgegangen.
Was für ein Stress! Ich stürze zurück zu dem Mann hinter dem Stein. Viel Zeit bleibt mir nicht. Ich muss mehr Druck machen. Weg mit dem Megaphon, ich zische dem Mann ins Ohr:
»Die Koordinaten allein nützen mir wenig. Ich brauchs schon genauer!«
Keine Antwort. Schlag ins Gesicht.
»Los, los, los, sag, wie komme ich dort hin? Red endlich, und du und deine Klassenkameraden sind frei.«
Der alte Geocacher nahm einen tiefen Schluck. Es war der letzte in seinem Fläschchen. Die Sonne stach schon wieder heiß und grausam herunter, doch er setzte Schritte vor Schritt. Bald war er am Ziel. Er wusste, dass hinter der nächsten Serpentinenkehre der Felsen begann, der zum Gipfelplateau führte. Er hatte nur noch eine kleine Strecke zu überwinden, fünfzig oder sechzig Meter. Mühsam setzte er Tritt und Griff, und Tritt und Griff, und im Höhersteigen war ihm, als hörte er Stimmen auf dem Gipfel. Und Griff, und Griff, und Tritt, und Griff. Er kam näher. Es war eine hitzige, anfeuernde Stimme, die aus einem Megaphon kam. Ein Megaphon auf einem Berggipfel deutete auf eine sportliche Veranstaltung hin. Wahrscheinlich war es einer der vielen Gipfelläufe, und gerade fand die Siegerehrung statt. Klar, so fügte sich alles zusammen! Bei einem Berglauf kannten sich die Teilnehmer untereinander nicht, wenn einer fehlte, fiel es zunächst nicht weiter auf. Und Schritt, und Griff, und Schritt, und Griff. Jetzt hörte er ein Stöhnen, abgerissene Wortfetzen:
»… über beide Häuser! Ich habe … Teil …«
Was war das? Dem Geocacher schmerzten die Hände von der ungewohnten Kletterei, er spürte ein Brennen in den Schultern, sein schwaches Herz klopfte, aber er schöpfte seine letzte Kraft daraus, dass er gleich oben sein würde. Endlich war es so weit. Er stemmte sich über die Felskante, und unter dem Gipfelkreuz sah er sie sitzen: eine erschöpfte Truppe von Bergmarathon-Teilnehmern, kniend, das Gesicht am Boden. Sie waren beim frommen Gipfelgebet. Löblich, dachte der Geocacher. Er richtete sich auf, ging ein paar Schritte auf die Gruppe zu. Sollte er sie beim Beten stören? Aber selbstverständlich musste er das, einer ihrer Kameraden war abgestürzt und brauchte Hilfe.
»Hallo!«, rief er.
Alle fuhren herum.
Der Geocacher, der feingeistige Schubert-Liebhaber, blickte in ein Dutzend hässlicher und gleichförmig dreinblickender Fratzen. Sie trugen alle dieselbe Hexenmaske wie der Verletzte. Sie blickten ihn mit ausdruckslosen, leeren Augen an. Sie schwiegen. Die Szenerie war gespenstisch, entsetzlich. Sein Herz hämmerte wild. Er bekam kaum noch Luft, mit einem kehligen Laut griff er sich an den Hals. Dann stürzte er zu Boden und blieb wie tot liegen.
Endlich! Endlich habe ich das, was ich wollte! Der Mistkerl war stur und bockig, er hat sich gewehrt, er hat tapfer gekämpft bis zum Schluss. – Jetzt habe ich ihn endlich zum Reden gebracht! Halleluja! – Ich bin im Besitz der Information. Das wurde höchste Zeit. – Ich öffne die Handschelle des Mannes und ziehe ihn hoch. Ich schleife ihn zum Rand der Klippe.
»Damit wirst du nicht durchkommen«, krächzt er.
»Halts Maul, Mopsi!«
Mopsi war sein Spitzname in der Schule gewesen. So hat ihn wahrscheinlich schon lange niemand mehr genannt. Er will noch etwas sagen, doch mein Faustschlag nimmt ihm den Atem. Dann stürzt er in die Tiefe.
Ohne einen Laut.
Ich streife meine
Weitere Kostenlose Bücher