Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Kleidung ab und stopfe sie ins vorbereitete Versteck. Ich streife auch die Stiefel ab und ziehe Bergschuhe an. Jetzt kommt der schmerzhafte Teil des Plans: Muss mich mit dem Kopf voraus auf den Boden werfen, muss mein Gesicht blutig aufschürfen. – Ich nehme Anlauf und springe mehrmals gegen den Felsen, um mir am ganzen Körper Prellungen und Stauchungen zuzufügen. Ich umfasse den kleinen Finger der einen Hand mit der anderen, um ihn zu brechen. Ich halte inne. Die Geiseln. Warum haben sich die Idioten schon wieder aufgerichtet?
»Oberkörper runter, das Gesicht zur Erde! Los, schnell!«
Wieder fahren alle zu Boden. Wieder ducken sich alle. Ich greife zur Bison und schieße noch einmal eine Salve über ihre Köpfe. Jetzt wird es keiner mehr wagen, nochmals hochzusehen. Was sind das für Geräusche? Ein Hubschrauber? Verdammt, viel zu früh! Ich habe doch den geplanten Notruf noch gar nicht abgesetzt – egal. Improvisation ist alles. Weg mit der Bison, Schutzhandschuhe zu den abgelegten Klamotten. Ich hechte an meinen Platz und lasse die Handschellen einrasten. Gerade noch rechtzeitig.
Wie ein Urzeitvogel stieg ein Hubschrauber über die felsige Klippe des Kramergipfels und füllte den halben Himmel aus.
36
In einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer. Ursel Grasegger, unruhig auf ihrem Sessel am Pulte.
Ursel Grasegger
(seufzt)
Habe nun …
(es klopft)
Nein, keine Sorge, es war nicht der Teufel. Geklopft hatte vielmehr der ehrenamtliche Heimatpfleger Eugen Mahlbrandt, in dessen Studierstube Ursel jetzt saß und Blatt um Blatt wendete. Beim Pfarrer hatte sie nichts mehr gefunden, was ihr weiterhelfen konnte. Er hatte sie zum Heimatpfleger weitergeschickt. Mahlbrandt legte ihr gerade Stöße von hochinteressantem Material auf den Tisch. Es handelte sich um Kopien von uralten Handschriften aus dem Archiv des Heimatvereins. Wegen der hochlöblichen Ehrenamtlichkeit Mahlbrandts und auch wegen des reichlichen Materials verkniff sich Ursel eine Bemerkung über den schlechten Kaffee.
»Haben Sie schon was herausgefunden, Frau Grasegger?«
»Ja, allerdings, Herr Mahlbrandt. Ich komme langsam in Schwung. Sie haben mir ja wirklich genau das Material gegeben, das ich brauche! Und in so einer Geschwindigkeit – Hut ab!«
Und tatsächlich: Mahlbrandt hatte von Anfang an begriffen, um was es Ursel ging und welche Dokumente sie vielleicht interessieren könnten. Er hatte die Akten quasi griffbereit gehabt. Sie hatte mit mehr Rückfragen und Wartezeiten gerechnet.
»Der Grund dafür liegt eigentlich eher in meiner Faulheit, Frau Grasegger«, sagte Mahlbrandt lachend. »Vor ein paar Wochen war schon mal jemand da, der nach geschichtlichen Dokumenten aus dem Werdenfelser Land gefragt hat. Es hat ein paar Tage gedauert, das alles rauszusuchen. Ich habe es damals zusammengestellt – und bisher keine Zeit gehabt, es wieder zurückzuordnen.«
»Das ist ja praktisch für mich.«
Ursel war so im Entdeckerfieber, dass sie dieser Bemerkung Mahlbrandts keine größere Bedeutung zumaß. Zunächst nicht. Aber dafür hat man ja den präfrontalen Cortex, der im Hirnkastel alleine weitergrübeln kann, während man sich mit anderen Dingen beschäftigt. Die Graseggerin stürzte sich auf das Material und fand auch gleich Schriften, die sich auf Verwaltungsentscheidungen rund um die Tätigkeitsbereiche von Gemeindeoberen bezogen. Sie musste sich zuerst daran gewöhnen, dass das Amt des
burgemeisters
immer wieder neue Bezeichnungen trug: Dorfmeister, Heimberger, Meier, Flurrichter,
sculdheizo
, Fronbote, Gemeindebüttel, Ratsleut-Vorsteher, Moar, Obermoar, Waldmoar und schließlich
magister civium
. Dieser letzte Ausdruck gefiel ihr am besten. Sie sah schon das Visitenkärtchen vor sich:
URSEL UND IGNAZ GRASEGGER
MAGISTRI CIVIUM
Oder musste es in diesem Fall Civi-i heißen? Ursel schwor sich, das nächste Mal ihr altes Lateinlexikon mitzunehmen, so viele lateinische Vokabeln hatten die damaligen Schreiber und Archivare verwendet. Je weiter es zurückging Richtung Urknall (oder Eden, wie man will), desto lateinischer wurde es, selbst bei einfachen Berichten über simple Vorfälle. Das altertümliche Deutsch wiederum – selbst Mittelhochdeutsch – war für die Graseggerin kein größeres Problem, zu ähnlich waren die Vokabeln hier dem Altbayrischen.
»Wie schaut es aus mit dir?«, fragte Ignaz am Telefon. »Altes Sauschwanzerl! Kommst du um sechs zum Abendessen heim? Es gibt Wirsing mit
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