Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Kindergärtnermasseur erkletterte sie rasch. Seine Kondition war hervorragend. Er sah sich um. Noch hatte er keinerlei Sichtkontakt zu seinen Kameraden, die waren jeweils hundertfünfzig oder zweihundert Meter von ihm entfernt. Er würde sie erst oben wiedersehen. Eine neue Anweisung über Funk:
Tarnmodus
. Jetzt schien es ernst zu werden. Tarnmodus hieß: gebückte, sprungbereite Haltung, vorläufige Einstellung des Funkverkehrs, Deckung, Maßnahmen zur Eigensicherung, Reduzierung der Schrittgeräusche auf das Allernotwendigste. Rauchgranaten bereithalten. Sein bürstenhaariger Chef, Kommandant Schimowitz, war ein großer Fan von Rauchgranaten.
»Die Türken vor Wien mit Rauchgranaten«, pflegte er immer zu sagen, »und alles wäre anders gekommen.«
Noch zehn Minuten bis zum Gipfel, jetzt war allerhöchste Aufmerksamkeit geboten. Schimowitz hatte beim Training immer wieder darauf hingewiesen, dass bei solch einem Zugriff die größte Gefahr davon ausging, dass der oder die Kidnapper, wenn sie einmal eingekesselt waren, die Nerven verloren und wild um sich ballerten. Auch darauf war er vorbereitet, das hatten sie tausendmal geübt. Er glaubte felsenfest an den Erfolg dieser Aktion. Denn ein Geiselnehmer war selten ein Profi. Geiselnahme war das riskanteste Verbrechen in der dunklen Reihe der kriminellen Handlungen. Geiselnahme rechnete sich nie. Also war das da oben ein Laie. Ein Spinner. Ein Psychopath, dem eine innere Stimme etwas befohlen hatte. Der übliche Wahnsinn. Er verließ das dichte Latschengestrüpp und betrat einen Streifen mit Felsgeröll. Er achtete darauf, keine Steine loszutreten. Wieder eine Stelle mit dichtem Latschenbewuchs – hier konnte sich theoretisch jemand verbergen. Er richtete seine Waffe auf die Latschen. Doch niemand war zu sehen. Als gedämpftes Murmeln hörte er die leisen, beruhigenden Befehlskürzel im Kopfhörer. Er fühlte sich vollkommen sicher in seiner Routine. Er konzentrierte sich auf den Angriff. Deshalb achtete er nicht weiter auf den Stich im Nacken. Es war ein kleiner Piekser, wie bei der Blutabnahme. Er stapfte weiter. Es war sicher nur eine Mücke gewesen.
Über der flachen Brandgrabenwiese senkte sich der Hubschrauber bis auf zehn Meter herunter. Kommissar Jennerwein griff mit bloßen Händen nach dem Zugseil, das Stengele aus dem Hubschrauber heruntergelassen hatte, er gurtete sich fest, wurde rasch hochgezogen – und in rasendem Steigflug ließen sie die grüne Wiese unter sich.
»Willkommen an Bord, Chef«, sagte Stengele, als Jennerwein in den Hubschrauber kletterte. »Es ist also die Kramerspitze.«
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit.«
»Trotzdem komisch. Die Kramerspitze ist genauso wenig ein geeigneter Berg für eine Geiselnahme wie die Alpspitze. Sie ist von drei Seiten erstürmbar. Die vierte Seite ist eine glatte, leicht einsehbare Steilwand. Um den Gipfel herum gibt es flachen Latschenbewuchs, aber keine unübersichtlichen Wälder, in denen man sich verstecken kann. Ich glaube –«
»Jetzt nicht«, unterbrach Jennerwein und wandte sich an den Hubschrauberpiloten.
»Wann sind wir dort?«
»In fünf Minuten«, antwortete der stramme Oberbayer. »Aber können Sie mir sagen, um was es geht, Kommissar? Geht es tatsächlich um eine Geiselnahme? Dann darf ich eigentlich nicht –«
»Notfall, Gefahr im Verzug«, sagte Jennerwein. »Und ich kenne alle Geiseln persönlich.«
»Aber –«
»Ich übernehme die Verantwortung.«
»Was haben Sie vor, Chef?«, fragte Stengele.
»Wir fliegen ran und verschaffen uns von oben einen Überblick. Dann versuchen wir eine Kontaktaufnahme.«
»Sie wollen das nicht dem SEK überlassen?«
»Die Zeit haben wir nicht. Ich habe schon mit Kommandant Schimowitz gesprochen. Das SEK und die Bergwacht schließen zwei Kreise um den Gipfel. Sie sind schon unterwegs. Wir kommen von oben und nehmen Kontakt auf. Ich werde versuchen, dem Geiselnehmer die aussichtslose Situation vor Augen zu führen. Wenn er ein Profi ist, wird er aufgeben.«
»Wenn er ein Profi wäre, hätte er den ganzen Scheiß gar nicht erst angefangen«, raunzte Stengele. »Wer heutzutage noch so was versucht, der ist ein größenwahnsinniger Selbstmörder. Passen Sie bloß auf, Chef.«
»Ich bin Ihrer Meinung, Stengele. Doch ich glaube, dass da etwas anderes dahintersteckt als ein größenwahnsinniger Selbstmörder.«
In rasender, schrägliegender Fahrt ging es Richtung Norden. Die Gebirgskette war schon zu sehen, sie waren jedoch noch zu weit
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