Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
eingefärbte Lautsprecherstimme.
»Hier spricht die Polizei!«
Das war nicht die Stimme des Gangsters.
»Bleiben Sie ruhig liegen. Mein Name ist Ludwig Stengele. Ein Beamter kommt jetzt zu Ihnen herunter. Die Bergspitze ist vollständig in der Hand von starken Polizeikräften. Sie sind nicht mehr in der Gewalt des Geiselnehmers. Sie sind außer Gefahr.«
Die Hubschraubergeräusche waren jetzt direkt über ihren Köpfen zu hören, das dröhnende Knattern mähte alle Rufe und Schreie nieder, die Geiseln spürten den drückenden, kalten Wind der Rotoren, sie rochen den beißenden Kerosingestank. Jetzt wagte erst recht niemand mehr aufzusehen. Nur ein Kopf hob sich vorsichtig in die Höhe. Eine kleine, müde Gestalt stützte sich unsicher und zögernd auf. Es war der Bärtige. Die rasenden Schmerzen in der Hand hatten ihn benommen und apathisch gemacht, die dramatischen Ereignisse der letzten Stunde hatte er nur bruchstückhaft mitbekommen. Aber jetzt rüttelte ihn der fegende Wind der Rotoren wach. Die Hubschraubertür öffnete sich, eine dünne silberne Nabelschnur wurde herausgelassen, daran hing ein Mann. Der Mann glitt langsam herunter, sprang auf den Boden, machte ein Zeichen nach oben. Die Nabelschnur schlackerte hin und her und peitschte den blauen Himmel.
»Bleibt alle in der Position liegen, in der ihr euch befindet«, schrie der Mann durch den Hubschrauberlärm hindurch. Und jetzt erkannte der Bärtige seinen alten Kameraden. Es war Hubertus, sein Freund aus vergangenen Tagen, der Stille aus der mittleren Reihe, das Ass in Sport, die Flasche in Mathematik. Er hatte ihn vor ein paar Stunden mit einer verschlüsselten Nachricht gerufen, Hu hatte seine Botschaft verstanden und war endlich gekommen. Plötzlich breitete sich dichter, wolkiger Rauch um Jennerwein herum aus, der himmlische, wattige Nebel quoll über das ganze Gipfelplateau und verschluckte schließlich auch ihn selbst. Jennerwein stand nur wenige Meter von ihm entfernt, schien ihn jedoch nicht zu erkennen oder ihn gar nicht zu bemerken. Trotzdem. Sein Plan war aufgegangen. Mit einem erleichterten Seufzer sank er zurück. Er verlor erneut das Bewusstsein.
Jennerwein hatte gehofft, sich die Gesichter der Geiseln einprägen zu können, bevor alles im Nebel der Rauchgranaten versank. Doch schon beim Abseilen aus dem Hubschrauber sah er, dass sie alle Masken trugen. Ein raffinierter Kerl, dieser Täter, dachte Jennerwein. Etwas abgesondert, vor der Gruppe der Geiseln, lag ein Mann, der keine Maske trug. Vielleicht war es ein besonders Mutiger oder ein Unvorsichtiger, der sie sich bereits abgestreift hatte. Jennerwein versuchte, ihn zu identifizieren, doch das war aus dieser Entfernung und vor allem nach all den Jahren, die vergangen waren, unmöglich. Was er noch im Heruntergleiten gesehen hatte, war ein Stoffsack und eine kleine Maschinenpistole. Ihr Lauf war auf die Geiseln gerichtet. Der Gipfelkasten stand offen, das Gipfelbuch war auf den Boden geworfen worden. Jennerwein versuchte, sich noch mehr Details einzuprägen, doch die Nebelkerzen ließen ihren wattigen Vorhang über die bizarre Szenerie fallen.
Die Männer des Spezialeinsatzkommandos stürmten den Gipfel hochprofessionell und effektiv. Als er auf den Boden gesprungen war, konnte Jennerwein die Arbeit der martialisch ausgerüsteten Männer aus nächster Nähe beobachten. Er sah zwar nur Schemen und Schatten, aber er sah genug. Es war erstaunlich, wie schnell sie operierten und wie genau sie selbst im dichtesten Nebel wussten, wo sie hinzugreifen hatten. Sie waren mit hochauflösenden Wärmebildkameras ausgestattet, mit denen sie sich ein schnelles Bild von der Position der Geiseln machen konnten. Der Nebel störte sie überhaupt nicht. Im Gegenteil. Die dicke Watte war ihr Element. Zudem wussten sie von Jennerwein, dass die Opfer gefesselt auf dem Boden kauerten. Das machte die Sache leichter. Oft stellten die Opfer den größten Störfaktor bei einer Befreiung dar.
Es war eine mit voller Absicht herbeigeführte chaotische und unübersichtliche Lage. Wenn ich Geiselnehmer wäre, dachte Jennerwein, dann würde ich genau das ausnützen. Dann wäre für mich jetzt der richtige Zeitpunkt, um zu verschwinden. Vielleicht hätte er Schimowitz die Rauchgranaten doch ausreden sollen. Andererseits vertraute er dem Kommandanten und seinen Männern. Jeder einzelne stand schon mit gespreizten Beinen über einer der dreizehn violettgrün pulsierenden Figuren, die er durch die
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