Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
dass er seine Kameraden das letzte Mal gesehen hatte. Er umkreiste das Plateau noch ein zweites Mal: Keine Spur von Gudrian. Angst und Wut stiegen in ihm auf. Er war vermutlich zu spät gekommen. Er versuchte, jemanden ausfindig zu machen, der einigermaßen auskunftsfähig war. Keine Chance. Alle hatten sie diesen unbeweglichen, starren Blick, der auf eine posttraumatische Belastungsstörung hindeutete. Eine Befragung wäre jetzt sinnlos gewesen. Er versuchte es trotzdem. Er erhob die Stimme.
»Hier spricht Jennerwein. Hört mal zu! Ich habe eine wichtige Frage an alle: Gibt es außerhalb dieses Gipfelplateaus noch Verletzte? Ich wiederhole: Weiß jemand von einer verletzten Person außerhalb dieses Bereichs?«
Als eine Frau, die schon halb in den Tragesack eingewickelt war, ungezügelt losweinte und lauthals aufschluchzte, schien das für viele der Anlass zu sein, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie schrien wild und unverständlich durcheinander.
»Die Waffe liegt dort hinten!«, brüllte Antonia Beissle, und ihre Stimme überschlug sich. »Die Waffe liegt dort hinten!«
»Das Zzzzing!, das Zzzzing! Achtet auf das Zzzzing!«, kreischte Houdini. »Es ist eine Zeitbombe, sie wird jeden Augenblick explodieren! Bringt uns hier weg! Bringt uns in Sicherheit!«
Einer hielt sich die Hand vor den Kopf und fluchte laut, als man versuchte, ihm die Maske vom Gesicht zu lösen, ein anderer trat und schlug um sich, ein dritter versuchte, sich aus der Trage zu wickeln und zu fliehen.
»Hört mal kurz zu. Ich bin Hauptkommissar Hubertus Jennerwein. Ihr kennt mich alle gut. Ich will wissen, ob sich außerhalb –«
Er fand kein Gehör. Die tobende Antonia Beissle, die er inzwischen als solche erkannte, musste intramuskulär mit 10 mg Diazepam beruhigt werden, und auch die anderen Befreiten waren entweder stumm und apathisch oder im Gegenteil außer Rand und Band. Sie deuteten in verschiedene Richtungen, redeten von Maschinengewehren und tickenden Zeitbomben, von Säcken mit klingelnden Handys und vom Heiligen Geist, der vom Himmel herabgestiegen war. Der Chor der Wimmernden und Verzweifelten wurde von Hustenanfällen erstickt. Sie konnten nicht mehr deuten und zeigen, denn sie wurden jetzt in Decken gewickelt, festgeschnallt und abtransportiert.
»Hier ist er!«, schrie einer von Schimowitz’ Männern plötzlich. »Ich habe ihn! Männlich, unverletzt, allem Anschein nach unbewaffnet!«
Houdini hatte es kommen sehen. Zunächst war alles gutgegangen. Doch jetzt wurde ihm ein Arm äußerst schmerzhaft auf den Rücken gedreht. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben. Drei, vier, fünf, sechs Gewehrläufe richteten sich von allen Seiten und aus nächster Nähe auf ihn, viele Hände packten ihn und entkleideten ihn vollständig.
»Wir haben den Geiselnehmer!«
»Sind Sie sicher?«, rief Jennerwein.
»Ziemlich sicher«, schrie der Mann zurück. »Er ist nicht gefesselt. Er hat beim Zugriff versucht, sich eine Handschelle anzulegen.«
»Warum haben Sie ihn entkleidet?«
»Er hätte am Körper Plastiksprengstoff tragen können.«
Das Wort ›Plastiksprengstoff‹ verursachte erneute Panik unter den Geiseln. Sie tobten jetzt. Die Rettungstücher, in die sie eingewickelt waren, zuckten und zitterten, die plumpen Bergesäcke schienen mit einem burlesken Tanz beginnen zu wollen. Die Männer zogen Houdini, nackt, wie er war, hoch, sie luden ihn im Gegensatz zu den anderen nicht auf eine Trage, sie stützten ihn von beiden Seiten und zerrten ihn reichlich unsanft, aber noch im Rahmen der Polizeivorschriften zu einem der Sanitätshubschrauber.
»Wenn alle dreizehn drin sind«, brüllte Schimowitz, »dann sofort bei mir sammeln. Wir sind hier fertig, wir werden schnellstmöglich ausschwärmen. Wir steigen ab und durchkämmen das Gelände nach eventuellen Helfern des Geiselnehmers.«
Jennerwein konnte es nicht fassen. Die Männer hatten dem Nackten die Maske abgenommen. Es war Ronni Ploch, der Hüftchirurg! Die internationale Koryphäe, der strahlende Stern am medizinischen Himmel. Der Partyzauberer und Gaudibursch! Hatte der das Zeug dazu, eine brutale, blutige Geiselnahme durchzuführen? Jennerwein sah den beiden davonfliegenden Sanitätshubschraubern nach. Er würde ihn befragen. Schon bald.
PROF. DR. RONNI PLOCH
Facharzt für Chirurgie
Liebe Freunde,
gerne komme ich zum Klassentreffen, ich freue mich schon wahnsinnig drauf. Da werden wieder ein paar alte
Weitere Kostenlose Bücher