Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Trampelspuren der SEK ler. Es war eindeutig eine Schleifspur, die auf ungute Weise bis zur Felsklippe führte. Stengele hielt die Luft an. Schnell stürzten die beiden Beamten zur Felskante. Sie legten sich auf den Bauch, robbten vorsichtig vor und blickten hinunter. Dort unten, ganz klein, lag ein Mensch. Er bewegte sich. Es konnte aber auch nur der Wind sein, der sich in der gelb-schwarzen Jacke verfangen hatte. Jennerwein konnte das Gesicht auf diese Entfernung nicht erkennen.
»Ist das Bernie Gudrian?«, stieß er flüsternd hervor.
42
Oberforstrat Siegfried Schäfer kannte die Studie. Sie war erst 2008 herausgekommen, und sie wies nach, dass ein Sechstel aller Menschen schon einmal Stimmen gehört hat. Wenn man zu diesem Sechstel zählte, wäre es ein Leichtes, sich damit abzufinden, doch stattdessen redete man sich sein Leben lang ein, zu den anderen fünf Sechsteln zu gehören. Es ist einfacher so. Der Polizei sagt man natürlich nicht, dass einem eine Stimme befohlen hätte, seine Ehefrau mit siebenundzwanzig Messerstichen niederzustrecken. Man verschweigt es auch gegenüber dem Untersuchungsrichter, lässt sich für den Oberstaatsanwalt und den Gefängnispsychologen ein plausibleres, nachvollziehbareres Motiv einfallen, auch die Mitglieder der Außervollzugsetzungskommission lenkt man auf eine andere Fährte. Am Ende gibt man es sogar vor Gott nicht zu. Gott nickt und schickt einen in den neunten Kreis der Hölle. Man wird hinausgeführt aus dem Jüngsten Gerichtssaal, steht draußen im Flur und hört durch die halbgeöffnete Tür, wie Gott sagt:
»Wenn er wenigstens zugegeben hätte, Stimmen gehört zu haben!«
Man will sich gerade umdrehen, um etwas zu erwidern, aber da ist es schon zu spät.
»Der Nächste bitte!«, sagt Gott.
Oberforstrat Schäfer riss sich von seinen Gedanken los und blickte aus einem der kleinen Fenster des Sanitätshubschraubers. Schöne sattgrüne Bilder flogen vorbei. Er reckte sich. Die Liegepritschen waren bequemer, als er gedacht hatte. Er hatte alles gut überstanden. Von größeren körperlichen Blessuren war er verschont geblieben, eine Ärztin hatte ihn erst vor ein paar Minuten untersucht und nichts festgestellt, was dringend hätte behandelt werden müssen. Außer ein paar schmerzhaften Abschürfungen im Gesicht war er wohlauf. Schäfer hob den Kopf und linste zu den anderen Insassen des Hubschraubers hinüber. Die meisten schienen in einem erbärmlichen Zustand zu sein. Gleich nebenan bekam jemand eine Sauerstoffmaske angelegt. Er selbst war vermutlich derjenige, der am glimpflichsten davongekommen war. Trotzdem hatte ihm die Ärztin empfohlen, wenigstens eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu bleiben, sicherheitshalber, wegen des posttraumatischen Schocks, der durchaus körperliche Folgen wie einen Kreislaufzusammenbruch oder heftige Atemnot nach sich ziehen konnte. Die Ärztin war sympathisch, Schäfer sah keinen Grund, abzulehnen. Seine Stimmen hatten ihm ebenfalls zu einem stationären Aufenthalt geraten.
Er war alles andere als ein pendelnder und kartenmischender Esoteriker wie Dietrich Diehl. Das Paranormale war seine Sache nicht. Oberforstrat Siegfried Schäfer hörte schlicht und einfach Stimmen. Die meisten begleiteten ihn schon sein ganzes Leben lang. In der Schulzeit war das plötzlich losgegangen, in einer Mathematikstunde beim alten Schirmer.
Hallo
, hatte die Stimme gesagt, als Schirmer das Problem mit der grasenden Ziege an die Tafel zeichnete.
Hallo, ich habe die Lösung für dich.
Schäfer war gar nicht einmal besonders überrascht gewesen. Und die Lösung war gar nicht einmal so falsch gewesen.
Er war ein großgewachsener Kerl, ein Riesentrumm Mannsbild, das alle anderen um Haupteslänge überragte. Auf den ersten Blick machte er einen durchaus erdverbundenen, bodenständigen Eindruck. Kein Mensch ahnte etwas von seinen ungebetenen Dauergästen. Manchmal meldeten sich die Stimmen wochenlang nicht. Dann tauchten sie plötzlich auf und gaben ihm Anweisungen. In diesem Fall war es einfacher, sie zu befolgen. Er hatte sich arrangiert, er empfand die Stimmen nicht als Behinderung. Nein, sie waren eher eine Art Zweitmeinung. Er hatte keiner Menschenseele je davon erzählt. Dann war vor ein paar Wochen auf einmal der beunruhigende Eintrag von diesem mysteriösen N.N. in der Klassenzeitung aufgetaucht.
Oberforstrat Schäfer – der ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit, der spinnt total. Gehört eigentlich in die Psychiatrie, und
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