Fenster zum Tod
etliche Kabel aus dem bereits vorhandenen Computer und steckte sie in den von Thomas.
Mit ausdrucksloser Stimme wandte Nicole sich an Thomas und mich. »Gleich wird jemand kommen, der Fragen stellen wird, also kommt das Klebeband runter. Wenn einer anfängt zu schreien, werde ich dem anderen weh tun. Sehr schnell sehr weh tun. Haben wir uns verstanden?«
Wir nickten beide. Nicole riss mir das Klebeband mit einer einzigen brutalen Bewegung vom Mund. Ich zuckte zusammen und leckte mir die Lippen. Ich schmeckte Blut. Als sie es bei Thomas wiederholte, jaulte er auf. »Das hat aber weh getan!«, beschwerte er sich, als hätte er auf dem Schulhof einen Tritt abbekommen. Doch sofort entschuldigte er sich bei Nicole. »Tut mir leid. Ich bin schon still. Tun Sie Ray nichts.«
»Geht’s dir gut?«, fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Arme tun weh, meine Lippen tun weh, und meine Hände spür ich gar nicht mehr.«
Auch ich konnte meine nicht mehr fühlen. Die Kabelbinder schnürten mir das Blut ab. »Die Hände meines Bruders sind wahrscheinlich schon blau. Meine auch. Können Sie was dagegen tun?«
Lewis holte eine Schere mit orangefarbigen Griffen aus dem Rucksack. »Keine Dummheiten«, sagte er. Er schnitt meine Handfesseln durch und klebte meine Handgelenke am Stuhl fest. Das Blut strömte in meine Finger zurück. Ich öffnete und schloss meine Hände, um das Kribbeln loszuwerden. Lewis versorgte auch Thomas, schloss noch das letzte Computerkabel an und drückte auf den Startknopf. Der Computer begann zu brummen, und der angeschlossene Bildschirm wurde hell.
»Alles, was da drauf ist, ist vertraulich«, sagte Thomas.
Der Bildschirmhintergrund war taubenblau, und nur wenige Icons waren darauf zu sehen. Eins vom Internet-Browser, eins für das E-Mail-Programm und unten in der Ecke der Papierkorb.
Lewis öffnete den Browser und klickte die Such-Chronik an. Thomas hatte keine Zeit mehr gehabt, sie zu löschen, aber es gab ohnehin nicht viel zu sehen. Nur jede Menge Orte auf Whirl360.
»Sehen Sie sich nie Pornos oder was in der Art an?«, fragte Lewis.
Thomas schien nicht zu verstehen, ob die Frage ernst gemeint war. »Dazu habe ich keine Zeit«, sagte er.
Lewis klickte sich von einer Straßenansicht zur anderen, von einer Stadt zur nächsten, alle Orte, die Thomas heute erkundet hatte. Wirklich heute? Eher gestern. Es musste schon nach Mitternacht sein. »Warum – nein, das soll Howard Sie fragen. Es ist sinnlos, das später noch mal durchzukauen.«
Er verließ Whirl360 und öffnete das Mail-Programm.
»Er darf die nicht lesen«, sagte Thomas zu mir. Dann fing er an, Fragen zu stellen. »In welcher Stadt sind wir? In welcher Straße? Hausnummer?«
Das hatte ich mich auch schon gefragt, wenn auch nicht so detailliert. Wir waren lange genug unterwegs gewesen, um jetzt in New York zu sein oder in Boston oder Buffalo oder noch einer Handvoll anderer Großstädte. Womöglich sogar in Philadelphia.
Nicole und Lewis nahmen keine Notiz von Thomas.
Thomas sah mich an. »Ich will nach Hause.«
»Ich weiß, Thomas. Halt durch. Bemüh dich.«
Lewis öffnete eine E-Mail nach der anderen und schüttelte den Kopf. Zweifellos war es ihm ein Rätsel, was Thomas mit all seinen Berichten an die CIA bezweckte.
»Was zum Teufel …«
Er las weiter. Nicole sah sich im Zimmer um. Sie zog ein Buch heraus, sah hinein, stellte es zurück. Nahm eine Puppe aus dem Regal und betrachtete sie, als wäre sie ein Souvenir von einem anderen Planeten. »Meine Mutter wollte nicht, dass ich mit Puppen spielte«, sagte sie, mehr zu sich als zu sonst jemandem.
Dann klopfte es. Wir blickten alle auf. Das Klopfen kam nicht von der Tür, durch die wir hereingekommen waren. Ich hatte den Eindruck gewonnen, durch einen Seiteneingang in dieses Zimmer verfrachtet worden zu sein, dieses Klopfen hingegen schien mir von vorne zu kommen. Lewis zog einen grünen Vorhang zur Seite, der als Tür zwischen dem hinteren und dem vorderen Raum diente. Licht fiel in den Vorderraum, und ich sah noch mehr antikes Spielzeug. Das war gefälliger präsentiert.
»Das ist er«, sagte Lewis, bevor er nach vorn ging.
Wer war er? Mehr als einmal war die Rede davon gewesen, dass jemand mit uns reden wollte. Jemand, für den Lewis und Nicole arbeiteten.
Ich hatte noch immer genauso viel Angst wie beim Verlassen unseres Hauses, aber ich war auch neugierig. Wenn man mit dem Leben mehr oder weniger abgeschlossen hatte, dann war die Frage, wen man als
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