Fenster zum Tod
Wir müssen ungefähr um halb elf losfahren.«
Thomas stand auf, ging mit seiner Schale zur Spüle und ließ Wasser darüberlaufen. Sonst überließ er den Abwasch immer mir. Das zeigte mir, wie sehr ihm daran gelegen war, mich nicht ansehen zu müssen.
»Geh nicht weg, Thomas.«
»Ich hab wirklich viel zu tun«, sagte er und schickte sich an, die Küche zu verlassen. »Du hast keine Ahnung, wie wichtig das ist.«
»Du kannst im Auto das Navi ausprobieren.«
Das hielt ihn auf. »Du hast ein Navigationssystem?«
»Schon im Armaturenbrett eingebaut.«
Er sah zu dem Garderobenschrank neben der Haustür hinüber. »Wir könnten jetzt fahren.«
»Es ist erst halb neun. Wir wollen doch nicht zwei Stunden im Wartezimmer rumsitzen.«
Er überlegte. »Gut, ich bin um halb elf fertig. Aber du musst mir versprechen, dass du mit Dr. Grigorin über dein Verhalten sprichst.«
»Versprochen.«
Nachdem Thomas in sein Zimmer hinaufgegangen und ich damit fertig war, unser Frühstücksgeschirr abzuspülen, sagte ich mir, dass es Zeit war.
Ich verließ das Haus durch die Hintertür und überquerte den Rasen. Er musste wieder gemäht werden. Das letzte Mal lag schon eine Woche zurück. Am oberen Ende des Hangs, der sich bis zum Bach hinunterzog, blieb ich stehen.
Es war eine steile Neigung, wie ich es Harry Peyton erzählt hatte. Eine Böschung wie diese mähte man am besten mit einem Rasentrimmer oder einem Handmäher. Das Schlimmste, was passieren konnte, wenn einem so ein Ding durchging, war, dass es den Hang hinunterpolterte und im Wasser landete.
Andere Leute hätten als Eigentümer dieses Grundstücks ihrer Pflichten als Landschaftspfleger dort beendet gesehen, wo auch die ebene Fläche endete. Sollten Gras und Unkraut auf dem Steilstück doch wuchern, wie es ihnen passte. Aber Dad gefiel die Vorstellung von einem gepflegten Garten bis hinunter zum Wasser. Der Bach machte aus dem Kilbride’schen Domizil zwar noch kein Strandhaus, aber in Dads Augen kam das hier diesem Vorbild schon ziemlich nahe. Also mähte er, wenn er auf dem restlichen Grundstück den Rasen schnitt, auch hinunter bis zum Bach. Im Frühling, im Sommer und im Herbst.
Ich weiß noch, wie meine Mutter mich ein Jahr vor ihrem Tod bei einem unserer Telefongespräche bat, meinem Vater ins Gewissen zu reden. Er sollte aufhören, auch den Hang mit dem Rasentraktor zu mähen, denn Dad fuhr dabei nicht von oben nach unten, sondern von einer Seite zur anderen, und lehnte sich dabei mit dem ganzen Gewicht zum Hang, um zu verhindern, dass der Traktor kippte.
»Er wird sich noch umbringen«, hatte sie gesagt.
»Mom, er weiß, was er tut.«
»Männer«, hatte sie verärgert gesagt. »Ich hab’s auch bei Harry und Len versucht, aber die haben mir das Gleiche gesagt.«
Und jetzt hatte sich herausgestellt, dass die Männer unrecht hatten.
Der grüne Traktor mit seinem gelben Sitz stand aufrecht am unteren Ende des Steilstücks. Die Motorhaube war schief und die Oberseite der hinteren Kotflügel voller Kratzer und Schrammen. Das Lenkrad war verbogen.
Wenn ich es recht verstanden hatte, hatte er sich einmal gedreht und Dad unter sich begraben. Thomas hatte den Traktor nicht zum Hang hin aufrichten können, dazu war das Gefälle einfach zu groß. Also hatte er ihm einen Stoß versetzt, damit er nach unten rollte. Der Rasenmäher hatte sich ein paarmal überschlagen und war schließlich auf dem ebenen Streifen am Bachufer auf den Rädern zum Stehen gekommen.
Und hatte seither dort gestanden.
Vorsichtig ging ich den Hang hinunter. Die Unglücksstelle war nicht schwer zu finden. Darüber war das Gras vielleicht zehn Zentimeter hoch, darunter wurde es schlagartig höher, mindestens um fünf Zentimeter. In der Mitte hatte sich der Traktor beim Kippen in den Boden gewühlt.
Einen Fuß vor den anderen gestellt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, blieb ich einen Augenblick an der Stelle stehen, an der mein Vater seinen letzten Atemzug getan hatte. Wo ihm der Atem aus dem Leib gequetscht worden war. Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Dann ging ich das letzte Stück zum Traktor hinunter.
Ich hatte keine Ahnung, ob es möglich war, ihn in die Scheune zu fahren. Es war nicht ausgeschlossen, dass der Motor bei dem Unfall beschädigt worden war. Durch das Umkippen konnte das ganze Benzin ausgelaufen sein. Und auch die Batterie konnte den Geist aufgegeben haben.
Zögernd stieg ich auf und ließ mich auf den Sitz sinken. Es fühlte sich
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