Fenster zum Tod
blickte nicht einmal in meine Richtung. Er ging zum Garderobenschrank neben der Haustür und holte eine Jacke heraus. Er schlüpfte hinein und zog gerade den Reißverschluss zu, da fragte ich ihn: »Wo soll’s denn hingehen?«
»Nach New York.«
»Tatsächlich.«
»Ja.«
»Und wo dahin?«
»Ich geh mir dieses Fenster ansehen.«
»Und wie kommst du dahin?«
»Zu Fuß.« Pause. »Ich kenne den Weg.«
»Das kann eine Weile dauern«, sagte ich.
»Es sind 309,5 Kilometer«, sagte er. »Wenn ich einunddreißig Kilometer pro Tag gehe, bin ich in –«
»Ich bitte dich, hör auf.«
Sechsundzwanzig
W enn nicht viel Verkehr ist, schafft man es in etwa dreieinhalb Stunden von Promise Falls nach New York. Wenn! Die größte Unbekannte ist das letzte Stück der Strecke. Man kommt wunderbar voran, die Skyline von Manhattan ist schon so nahe, dass man die Hand aus dem Fenster strecken und sie berühren könnte, dann schneidet irgendein Idiot in einem Lieferwagen ein Taxi, löst eine Massenkarambolage aus, und die nächsten zwei Stunden steht man Stoßstange an Stoßstange.
Also entschied ich mich für die Bahn. Ich wollte früh am Morgen abfahren, mein Versprechen einlösen und noch am selben Tag wieder zurückkehren, um Thomas nicht über Nacht allein zu lassen. Früher hätte ich es vielleicht gewagt, über Nacht wegzubleiben, doch seit der Sache mit dem FBI ließ ich ihn lieber nicht länger als unbedingt nötig aus den Augen.
Er hatte mir versprochen, in der Zwischenzeit nichts zu unternehmen, was mich aufregen könnte, vorausgesetzt, ich hielt meinen Teil der Abmachung ein.
Wenn Thomas sich einbildete, ich führe nur seinetwegen nach New York, dann sollte er das ruhig tun. Mir jedoch war in dem Moment, als er anfing, mich mit dieser Nachforschung zu nerven, die Frau wieder eingefallen, mit der ich mich Jeremys Meinung nach treffen sollte. Darum musste ich mich wirklich kümmern, denn das konnte Geld einbringen, und zwar ziemlich viel. Ich ließ Thomas wieder allein und rief umgehend Jeremy an. Konnte er vielleicht für den nächsten Tag ein Treffen arrangieren? Er sagte, er würde mich zurückrufen. Eine Stunde später richtete er mir aus, dass Kathleen Ford zwar eine Verabredung zum Mittagessen habe, wir uns aber danach auf einen Drink im Tribeca Grand Hotel treffen könnten.
Ich sagte, ich würde da sein.
Jeremy meinte, wir sollten vorher noch schnell zusammen zu Mittag essen. Wir einigten uns auf das Waverly Restaurant in der Sixth Avenue, zwischen Waverly Place und 8. Straße, weil von da aus sowohl das Hotel als auch das Ziel meiner Nachforschungen für Thomas gut zu erreichen war.
Als ich Thomas sagte, wo ich zu Mittag essen würde, schloss er die Augen und rezitierte: »In der Avenue of the Americas, meistens kurz Sixth Avenue genannt, glaub ich, gleich beim Waverly Place. Über der Tür hängt ein Neonschild, ›Waverly‹ grün, ›Restaurant‹ rot geschrieben. Direkt gegenüber gibt es einen Duane Reade Drugstore und südlich davon, gegenüber dem Waverly Place, da gibt’s einen Laden, der Vitamine verkauft. Das ›t‹ von ›Restaurant‹, das erste meine ich, leuchtet nicht, wenn man von Westen den Waverly Place entlanggeht.«
Ich stand vor Sonnenaufgang auf, fuhr nach Albany, nahm den Zug am Bahnhof Rensselaer und bekam auf der zweieinhalbstündigen Fahrt sogar noch eine Mütze voll Schlaf. Solange ich wach war und die Landschaft am Fenster vorbeiflitzen sah, hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, ob es so klug gewesen war, Thomas nachzugeben und die Adresse in der Orchard Street, wo er den Kopf in der Plastiktüte gesehen hatte, in Augenschein zu nehmen. Möglicherweise stachelte ich seine Neugier nur noch mehr an.
Doch wenn ich meinen Bruder auf diese Art davon abhalten konnte, weitere Nachrichten an Bundesbehörden zu verschicken und damit noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dann war es klug. Wenn ich ihn nicht gleich in eine Zwangsjacke stecken wollte, dann war das der einzige Weg, solche Kommunikationsversuche zu unterbinden. Den Stecker seines Computers würde ich nie wieder ziehen, und selbst wenn ich bereit gewesen wäre, die verheerenden Folgen so eines Eingriffs noch einmal heraufzubeschwören, Thomas hätte immer noch die Möglichkeit, jemanden anzurufen. Er konnte auch Briefe schreiben und mit der Post befördern lassen. Er verließ zwar ohnehin ungern das Haus, trotzdem wollte ich nicht, dass er sich wie ein Gefangener vorkam, dessen Kontakt zu anderen
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