Fenster zum Tod
oder war es der berühmte Unbekannte?
All das hatte sich ereignet, bevor es Whirl360 überhaupt gab. Wir wussten zwar nicht, wann das Foto des Kopfes am Fenster aufgenommen worden war, aber älter als zwei, drei Jahre war es bestimmt nicht. Aus dieser Zeit gab es keine Berichte über verdächtige Todesfälle in der Orchard Street, zumindest keinen, bei dem jemand gestorben war, weil man ihm eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hatte. Der einzige einigermaßen interessante Artikel war eine Kurzmeldung über eine einunddreißigjährige Kellnerin namens Allison Fitch. Sie hatte in der Orchard Street (keine genauere Angabe) gewohnt und war in der letzten Augustwoche des vergangenen Jahres als vermisst gemeldet worden. Die Meldung stammte aus der ersten Septemberwoche. Da ich jedoch keine Folgeartikel fand, nahm ich an, dass die Sache sich von selbst erledigt hatte. In den Vereinigten Staaten verschwanden jeden Tag Tausende Menschen und tauchten innerhalb der nächsten Stunden wieder auf. Es gab genügend Statistiken darüber, wenn man es genau wissen wollte.
Ich stieg an der Penn Station aus und machte mich als Erstes auf den Weg in die Canal Street, zu Pearl Paint, einem Riesenladen für Künstlerbedarf. Fast zwei Stunden schlenderte ich ohne besonderes Ziel von einer Etage zur nächsten. Schließlich verließ ich das Geschäft mit einem Dutzend Airbrush-Nadeln und zwei Luftkappen, sowie je einer Schachtel schwarzer Fineliner mit feiner und mit breiter Spitze. Davon hatte ich zwar bereits einen ausreichenden Vorrat zu Hause in Burlington, aber Fineliner konnte man schließlich nie genug haben.
Dann ließ ich mich mit dem Taxi zum Waverly Restaurant bringen. Bevor ich hineinging, wollte ich noch sehen, wie gut Thomas, der noch nie in Fleisch und Blut hier gewesen war, die Gegend beschrieben hatte.
Der Vitaminladen war da, der Duane Reade auf der anderen Straßenseite ebenfalls. Sogar mit dem durchgebrannten Buchstaben auf dem Schild hatte er recht gehabt.
Er war schon ein Ass, da konnte man sagen, was man wollte.
Jeremy saß bereits in einer Fensternische, eine Tasse Kaffee vor sich und die Speisekarte in der Hand. Ich schlüpfte in die Bank ihm gegenüber.
»Du wirst nicht glauben, neben wem ich beim Pinkeln gestanden habe«, sagte er. Jeremy versuchte immer, mich zu beeindrucken, indem er mir von Promis erzählte, mit denen er schon Tuchfühlung gehabt hatte.
»Ich kann’s mir echt nicht vorstellen.«.
»Philip Seymour Hoffmann«, sagte er. »Auf der Herrentoilette in einem der Theater am Lincoln Center.«
»Bitte sag mir, dass du ihn nicht angequatscht hast.«
Hatte er nicht. Ich zeigte auf die gerahmten alten Schwarzweißfotos von Prominenten, die im ganzen Lokal die Wände zierten.
»Hattest du von denen auch schon einen zum Pinkelnachbarn?«
»Die sind doch alle tot«, sagte Jeremy.
Ich bestellte mir Kaffee und Grillkäse mit Speck. Jeremy nahm Rührei und hausgemachte Pommes direkt in der Pfanne serviert. Wir plauderten über den Niedergang des Zeitungs- und Zeitschriftensektors und den Aufschwung von Websites wie Huffington Post, und waren uns einig, dass dieses neue Medium genau zur rechten Zeit aufgetaucht war.
Jeremy sagte, Kathleen Ford wolle einen animierten Cartoon pro Woche und sei bereit, fünfzehnhundert Dollar pro Stück zu zahlen. Das klang nach viel Geld, doch es war auch viel Arbeit. Dafür waren nämlich Unmengen von Zeichnungen nötig. »Ich wette, da gibt’s irgendwelche Programme, um das Ganze zu vereinfachen.«
Ich kannte tatsächlich welche, mit denen ich mir einiges an Zeit sparen konnte. Mit ihrer Hilfe konnte ich eine Idee in ein, zwei Tagen umsetzen. So bliebe mir sogar noch Zeit für andere Aufträge.
Jeremy bezahlte die Rechnung, dann fuhren wir mit dem Taxi zum Hotel. Kathleen Ford kam eine Viertelstunde zu spät, aber so, wie sie aussah, hatte sie es nicht nötig, sich zu entschuldigen, egal wie sehr sie sich verspätete. Die Leute waren dankbar, dass sie überhaupt kam. Sie war groß, schlank, Mitte fünfzig und hatte glänzendes blondes Haar. Hätte ich einen Blick auf die Etiketten ihrer Kleider werfen dürfen, hätte ich da bestimmt Chanel, Gucci, Hermès und Diane von Schlagmichtot gelesen. Sie sprühte vor Charme, und als wir uns an die Bar verfügt hatten – in diesem Zusammenhang war mir das Wort noch nicht so oft untergekommen –, sagte sie, sie sei ein Riesenfan meiner Illustrationen, und redete fast nonstop über all die wichtigen New Yorker, die
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