Fenster zum Tod
Solche Motive brachten einen zu Fall, machten einen blind für seine eigenen Unzulänglichkeiten. Nicole arbeitete nicht in dieser Branche, weil es ihr Vergnügen bereitete, anderen das Leben zu nehmen, obwohl eine gelungene Arbeit natürlich sehr befriedigend war. Wenn überhaupt von Spaß an der Arbeit die Rede sein konnte, dann in den Fällen, in denen die Zielperson männlich war. Dann stellte sie sich immer vor, dass es ihr Trainer war. Oder ihr Vater. Oder Victor.
Im ersten Anlauf hatte sie alles verbockt. Jetzt war es ihre Pflicht, im zweiten alles wieder in Ordnung zu bringen. Das Einzige, was einem im Leben blieb, war der gute Ruf, und sie würde tun, was zu tun war, um ihren wiederherzustellen. Außerdem erwartete man das von ihr.
Schade nur, dass es so viel länger dauerte als erwartet.
Nicole hörte die Wohnung von Allison Fitchs Mutter jetzt schon seit Monaten ab. Nur ein paar Tage nach Allisons Verschwinden – Doris Fitch war gerade unterwegs, um mit der Polizei von Dayton den Stand der Ermittlungen in New York zu erörtern – war sie dort eingedrungen und hatte eine Wanze im Telefon sowie eine weitere in der Wohnung selbst plaziert. Außerdem hatte sie ein Programm auf den Computer dort installiert, mit dessen Hilfe sie diesen von ihrem eigenen Laptop aus überwachen konnte. Dabei ergaben sich ein, zwei technische Probleme, bei deren Lösung Lewis sie unterstützt hatte. Nun war Nicole also in der Lage, die E-Mails von Doris Fitch und alles, was sie in Word schrieb, zu lesen. Auch auf ihr Online-Banking-Programm hatte Nicole Zugriff. Sie konnte also jederzeit sehen, ob Allisons Mutter größere Summen als üblich abhob. Für Nicole war es nur eine Frage der Zeit, bis die Tochter sich bei der Mutter meldete.
Narrensicher war dieses System allerdings nicht. Allison konnte ihrer Mutter auch über eine dritte Person eine Nachricht zukommen lassen. Sollte tatsächlich dieser Fall eintreten, dann würde Mrs. Fitch höchstwahrscheinlich etwas tun, das sie sonst nicht tat. Einen Flug buchen, zum Beispiel.
Nicole gab die Hoffnung nicht auf, dass Allison irgendwann Kontakt aufnehmen würde. Anfangs hatte sie wahrscheinlich davor zurückgeschreckt. Und mit gutem Grund. Sie konnte sich ausrechnen, dass ihre Mutter beobachtet wurde. Doch nach so langer Zeit spekulierte Allison möglicherweise darauf, dass ihre Verfolger in ihrer Wachsamkeit nachließen, sie vielleicht sogar für tot hielten.
Deshalb musste Nicole weiter ausharren. Sie hoffte nur, es würde nicht mehr allzu lange dauern. Sie hatte schon seit Monaten keine Einnahmen mehr und deshalb bereits ihre Reserven angreifen müssen.
Vielleicht sollte sie den Beruf wechseln. Dieser Branche den Rücken kehren, bevor das Glück sie verließ. Wenn es das nicht schon getan hatte. Sie hatte kein gutes Gefühl, wenn sie an Lewis dachte. Gut möglich, dass er, wenn das hier endlich vorbei war, wegen ihres Fehlers mit ihr abrechnete.
Sie musste auf alles gefasst sein.
Während sie auf Allison wartete, hatte sie reichlich Zeit, über ihre Lage nachzudenken.
Doris Fitch wohnte in einer Anlage mit niedrigen Mehrfamilienhäusern in Dayton-Northridge, nicht weit von der Interstate 75. Nicole hatte eine leerstehende Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite gefunden, von der sie nicht nur das Apartment von Mrs. Fitch einsehen konnte, sondern auch deren Parkplatz. Allisons Mutter besaß einen schwarzen Nissan Versa.
Nicole konnte unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche am Fenster sitzen und die Wohnung der Fitch beobachten. Sie musste einkaufen. Sie musste schlafen. Doch dafür hatte sie entsprechende Vorkehrungen getroffen. Die Überwachungsanlage war sprachaktiviert. Sobald sie sich einschaltete, sprang auch das Aufzeichnungsgerät an. Wenn der Versa sich bewegte, wurde Nicole von einer winzigen Leuchte alarmiert.
Trotzdem war es sicherer, in der Nähe zu bleiben. Sie hatte Angst, dass womöglich genau in dem Moment, in dem sie die Wohnung aus den Augen ließ, ein Taxi mit Allison darin vorfuhr.
Nicoles Handy klingelte.
»Ja.«
»Hey«, sagte Lewis.
»Hallo.«
»Es gibt was zu tun.«
»Ich bin beschäftigt.«
»Du musst nach Chicago.«
Wie der Mistkerl in letzter Zeit mit ihr redete, gefiel ihr überhaupt nicht.
»Geht nicht.«
»Geht nicht, gibt’s nicht. Das ist genauso wichtig, wie das, woran du gerade dran bist.«
»Was ist in Chicago?«
»Sitzt du vor deinem Laptop?«
»Moment. Alles klar. Schieß
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